Lammkoteletts auf getoastetem Brot mit Minzeblättern bringt uns der Restaurantbesitzer. Das Essen ist eine Art Unterstützung für die Pressevielfalt in Portugal, denn ich sitze hier, im Lissabonner Wohnbezirk Campo de Ourique, mit João de Sousa, einem von 60 Journalisten, die in diesem September die Medien-Genossenschaft „Tornado“ gegründet haben. Der Restaurantbesitzer hat sich bereit erklärt, zehn Journalisten, die in Vollzeit arbeiten werden, in den ersten Monaten das tägliche Mittagessen zu spendieren. „Die Medien stehen im Dienste der Institutionen und stellen die Situation des Landes verzerrt dar, wir brauchen eine fünfte Macht“, sagt João. Wie das Projekt finanziell gestemmt werden soll, wird im Laufe des Mittagessens nicht ganz klar, aber Sousas Enthusiasmus ist ansteckend. Und eine warme Mahlzeit fürs Schreiben ist für die vielen joblosen Journalisten in Portugal, die keine staatliche Unterstützung mehr erhalten, fast wie ein Neuanfang.
Die Lage in Portugal hat sich seit Beginn der Troika-Intervention und der von der EU auferlegten Austeritätspolitik verschlechtert. Der Schuldenberg ist immens gewachsen, mehr als 300.000 Arbeitsplätze sind seit 2011 verloren gegangen, die Löhne ins Bodenlose gefallen: 580 Euro ist der Durchschnitt der Bruttomonatsgehälter aller neuen Arbeitsverträge der letzten drei Jahre.
Fröhliche Touristen strömen durch das Lissabonner Altstadtviertel Chiado, die Stadt vibriert vor Lebensfreude. Zeitschriften wie der New Yorker oder Monocle sind seit ein paar Jahren im Lissabon-Fieber. Nur wenige Kilometer entfernt, am für die Expo-Weltausstellung 1998 gebauten Bahnhof Oriente, leben Hunderte von Obdachlosen unter Betonpfeilern. Es gibt jetzt zwei Versionen von Portugal. Die in einigen Medien verbreitete vom „Musterschüler“ der Strukturreformen, die sich solide auf selektive Statistik, Verzerrung und Manipulation stützt. Und es gibt den Alltag, in dem ein Drittel der Bevölkerung gegen die Armut kämpft. In dem mehr als die Hälfte der Jugend, die ihre Ausbildung beendet hat, keine Arbeit findet und viele Freunde ausgewandert sind.
Lücken füllen
„Vertrauen“ versprechen Plakate der oppositionellen Sozialisten. Ihr ehemaliger Generalsekretär José Sócrates hatte als Premierminister einst die ersten Sparmaßnahmen durch das Parlament gebracht. Jetzt wurde gerade seine seit zehn Monaten währende Untersuchungshaft in Hausarrest umgewandelt. Er darf nun das Verfahren wegen Korruption, Geldwäsche und Steuerflucht in seinem Anwesen mit geheiztem Außenschwimmbad im Zentrum Lissabons abwarten. Für die Parlamentswahlen am 4. Oktober ist das ein entscheidender Faktor, denn Sócrates ist wieder täglich in den Schlagzeilen. Drei Jahre hat die aktuelle Regierung aus Rechtsliberalen und Konservativen das Land mit Sparpolitik weiter gewürgt und nichts als akute Atemnot erreicht – eine klare Abwahl muss sie dennoch nicht fürchten. „Vertrauen“ ist genau das, was Portugiesen nicht spüren.
Zweieinhalb Autostunden südlich von Lissabon, in Faro an der Algarve, lindert ein generöser Schluck Rotwein die Schärfe des mit Piri-Piri beträufelten Seeteufelrisottos. Vítor, der Besitzer des Restaurants und ein Jugendfreund, steht neben dem Tisch und füllt mein Glas nach. Ich muss zu ihm aufschauen. „Drei meiner fünf Angestellten habe ich wegen der Krise schon entlassen müssen“, sagt mein vorzeitig gealterter Freund. Seine Frau und er betreiben einen Fruchtladen und das Restaurant. „Aber ich habe Glück gehabt. Wir schlafen jetzt zwar nur fünf Stunden, aber viele andere hier mussten schließen und sitzen auf der Straße.“ In einer Ecke steht ein Kindersitz, darin schläft sein einjähriger Sohn.
Die Autobahn zurück nach Lissabon ist leer, kaum ein Portugiese kann sie sich aufgrund der Maut noch leisten. Costa da Caparica liegt an der Atlantik-Mündung des Flusses Tejo, am Ufer gegenüber ist Lissabon zu erkennen. An einem Kai steht ein Angler. Ein Rentner, denke ich, der den Sommernachmittag genießt. „Es muss sein, wenn ich noch Fisch essen will“, sagt er. „36 Jahre lang hatte ich einen Laden. Die letzten sechs Jahre wurde es immer schlimmer. Jeden Monat musste ich mit meinen Ersparnissen Lücken füllen. Ich hätte das Geschäft früher dicht machen müssen, aber ich hatte immer die Hoffnung. Jetzt habe ich keinen Laden, kein Geld und keine Arbeitslosenunterstützung. Nichts habe ich.“
Ein paar hundert Meter weiter taucht ein Mann mittleren Alters in einem verschlissenen, alten Surfanzug zwischen den Felsen auf. Der Wellengang ist stark. Er hält ein paar kleine Entenmuscheln in der einen Hand, in der anderen ein rostiges Messer. In Lissabon werden die großen Entenmuscheln in Gourmetläden an Touristen aus Nordeuropa und Amerika verkauft, oft für über 100 Euro pro Kilo. Seit drei Stunden taucht der Mann schon, seine Muscheln sind klein wie Babyfinger und dünn wie Strohhalme. Dieses Kaliber wird ihm weniger als 15 Euro pro Kilo einbringen und er hat erst ein paar hundert Gramm. An der westlichen Algarve seilen sich die Sammler an den Felsen ab, um die dort wachsenden Muscheln abzuschneiden. Auch hier muss der Taucher den Wellengang genau im Auge behalten. Wenn er den Bruchteil einer Sekunde zu spät an den Steinen zum Kai hochklettert, erwischen ihn die hochpeitschenden Wellen.
Ähnlich geht es vielen Familien in Portugal, die sich vor den Schockwellen der Krise in Sicherheit zu bringen versuchen. Viele Hunderttausende sind bereits im Schuldenmeer untergegangen. Ein Drittel der kleinen Familienunternehmen musste krisenbedingt schließen. Knapp zehn Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung sind seit 2011 ausgewandert. Der Tourismus boomt, machte aber auch vor der Krise nur knapp 15 Prozent der Wirtschaftsleistung aus.
Nach der Parlaments- steht in Portugal Anfang 2016 die Präsidentschaftswahl an. Vier Jahre nach dem Eingriff der Troika gibt die Regierung vor, dem Lande gehe es besser. Die Arbeitslosigkeit ist statistisch tatsächlich gesunken: 38.000 Arbeitslose weniger als 2011 führen die offiziellen Statistiken. Aber in vier Jahren haben sich im Land fast 300.000 Arbeitsplätze in Luft aufgelöst. Laut statistischem Landesamt sind in dieser Zeit eine halbe Million Portugiesen ausgewandert. Die Financial Times titelte über Portugal: „The Perfect Demographic Storm“. Das Land mit der niedrigsten Geburtenrate der EU hat nach Malta die meisten Auswanderer.
Korruption und Koalition
Aus der sozialen Misere Portugals hat sich keine Bewegung wie Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien formiert. Viele kleine Splitterparteien und unabhängige Kandidaten fransen die beiden etablierten linken Parteien aus, die Kommunisten und den Bloco de Esquerda. In der Mitte weichen viele Traditionswähler der Sozialisten widerwillig zu den Austeritätspolitikern der regierenden Koalition aus, der Korruptionsskandale wegen.
In Felgueiras, im Norden des Landes, habe ich schon früher über Kinderarbeit recherchiert. Ich musste mich in den Cafés kleiner Städte und Ortschaften tagelang durchfragen – bis jemand nicht nur bestätigte, dass überall Kinderhände die „handgenähten Schuhe“ fertigen, sondern mich auch dorthin mitnahm, wo es passierte.
Die Schuhfabriken Nordportugals, die die Krise überstanden haben, sind hochmodern, zugleich sind seit der Öffnung der Textilbranche gen China 2005 fast 90 Prozent der Arbeitsplätze verloren gegangen. Laserstrahlen schneiden Einlegesohlen, Leder wird mit modernster Technik bedruckt,. Internationale Marken schicken ihre Modelle, die hier im Detail ausgearbeitet werden und in Massenproduktion gehen, bevor sie in den Schaufenstern der Fußgängerzonen Düsseldorfs, Frankfurts oder Münchens zu sehen sind.
Am Ende des Tages kommen die Lieferwagen der Subunternehmer und nehmen die Schuhe mit – für die letzten Arbeitsschritte von Hand. Immer öfter sind es Kinder, die in Garagen und Schuppen bis spät in die Nacht mit Faden und Nadeln hantieren. Diesmal musste ich nicht lange suchen und fragen. Schon am ersten Abend stehe ich im kleinen Wohnzimmer einer Vorstadtwohnung, in der vier Kinder zwischen acht und zwölf Jahren Schuhe nähen. Der Fernseher läuft. „Meine Tochter und mein Sohn sind arbeitslos. Sie suchen Arbeit in der Schweiz und in Deutschland. Meine Rente ist wieder gekürzt worden, da müssen die ganz Kleinen mithelfen wie früher. Aber sie machen das gern“, der zahnlose Mann lächelt dazu. Die Kinder schauen zu mir hoch und lächeln ebenso.
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