Ljubo Tadic, der Intendant des Belgrader Nationaltheaters, machte der Regisseurin Mira Erzeg im Herbst 2001 das Angebot, unmittelbar nach seiner "Macht-Übernahme" an dieser Bühne, eine Inszenierung zu übernehmen. Er wollte, den erzkonservativen Theatertempel umkrempeln und sah in der "eigensinnigen Regisseurin", wie er Erzeg nannte, eine Verbündete.
Noch erschien einer Mehrheit in Serbien, nach dem Ende des Milosevic-Systems ein Jahr zuvor, die Zukunft des Landes verheißungsvoll. Mira Erceg-Hawemann hatte viele Jahre in Berlin (Ost) gelebt und am dortigen Theater der Freundschaft - aber auch in Ljubljana und Belgrad - Regie geführt. Sie ließ sich schließlich auf das Abenteuer ein, zum ersten Mal in Serbien überhaupt Faust I und Faust II auf die Bühne zu bringen.
Ich lief durch die Stadt, wir hatten Shakespeares Hamlet vereinbart, die Regie-Konzeption erhielt erste Konturen in meinem Kopf. Am Platz, auf dem zwischen den Passanten die schönen, großen Hunden lagerten, hielt ich an. Die Tiere waren zu Beginn der Bombardements im März 1999 ausgesetzt worden, und ich bewunderte, wie sie es gelernt hatten, als Rudel in Belgrad zu überleben.
Beim Weiterschlendern stand ich irgendwann vor den Ruinen des Generalstabs der Jugoslawischen Armee: zwei hohe Gebäude links und rechts der verkehrsreichen Nimanjina-Straße, die damals von NATO-Bomben zerstört wurden. Da ich im Unterschied zu manchen selbsternannten Belgrader Demokraten nicht denke, dass sich Demokratie herbeibomben lässt, fühlte ich an dieser Stelle meist hilflose Wut. Diesmal aber staunte ich darüber, wie dicht das schöpferische und das zerstörerische Prinzip in der europäischen Kultur verwoben sein können. Die zerbombten Zwillingstürme des Gebäudes gehörten zu den schönsten Zeugnissen moderner Architektur in Jugoslawien. Ihr Architekt, Nikola Dobrovic, ein Schüler von Le Corbusier, hinterließ an vielen Orten Spuren seines Schaffens, in seiner Heimatstadt aber hatte er nur diese Türme gebaut, die wir Szylla und Charybdis nannten. Mir schoss durch den Kopf: "Was ein Faust geschaffen hat, hat ein anderer Faust zerstört."
Am Ende des Spazierganges war ich davon überzeugt, nicht den Hamlet, sondern in diesen Ruinen Goethes Faust inszenieren zu müssen, besonders den zweiten Teil, die Reise eines kreativen, aber skrupellosen Europäers durch die Zeit und die große Welt. Ljubo Tadic, der neue Intendant des Nationaltheaters, war von der Idee begeistert.
Vom Dach der Ruine in den Tod stürzen
Die beiden Ruinen gehörten noch der Armee, die sich gerade bemühte, das Trümmergrundstück an kommerzielle Investoren zu verscherbeln. Dennoch erhielt das Theater die Erlaubnis, das Terrain vorläufig nutzen zu können. Bei den Vorgesprächen interessierten mich nur die Gebäude, die Armeevertreter hingegen begannen, sich für den Faust zu interessieren. Einem Luftwaffenmajor hatte es die Geschichte Euphorions angetan, des Sohns von Faust und Helena. Er wollte wissen, wie ich den Tod Euphorions inszenieren würde. "Er wird die Ruine Etage für Etage erklimmen und sich vom Dach, auf dem eine Hardrockband spielt, in den Tod stürzen", erzählte ich ihm. "Aber er kann doch fliegen!", entgegnete der Major. "Wie wäre es, wenn er abheben würde in den Himmel? Mit einem Hubschrauber - ich könnte das möglich machen." Ich versprach ihm, über diesen Vorschlag nachzudenken.
So fuhr ich nach Berlin zurück, um den Text zu bearbeiten. Der Abschied von Belgrad fiel mir schwerer als sonst. Die Aufbruchsstimmung in Serbien war trotz aller Widersprüche erregend. Zoran Djindjic, der Ministerpräsident, versprach Reformen und den EU-Beitritt des Landes bis spätestens 2010. Viele Belgrader, die ihre Stadt während der Milosevic-Ära verlassen hatten, kehrten zurück, auch die Söhne und Töchter der serbischen Diaspora, unter ihnen hochgebildete Ökonomen und Finanzexperten. Sie kamen aus Paris, London und New York, sie trugen Armani-Anzüge und waren Patrioten der Weltbank und des Neoliberalismus, wie sich bald herausstellen sollte. Unter den mit viel Schwung entlassenen Arbeitern stieg die Selbstmordrate. Wieder wuchs der Nationalismus, diesmal als Reaktion auf rücksichtslose Reformen. Ererbte kriminelle Strukturen verwoben sich schnell mit den neuen "demokratischen". Mir war das nicht neu, ganz Osteuropa leidet unter dieser Krankheit, aber es tat weh.
Die Eile aller Maßnahmen beschleunigte die Tragödie. Und Zoran Djindjic wurde für mich der Prototyp des serbischen Faust. Denn Goethes Alterswerk ist eine Tragödie der Beschleunigung. Das ist keine Überinterpretation aus heutiger Sicht, sondern steht deutlich im Werk. Faust ist kein tragischer Grübler, sondern der moderne Typus des Wissenschaftlers, des Eroberers, der keine Grenzen kennt, des Unternehmers, ein Muster jener Eliten, die auf alles Anspruch erheben, alles besitzen und beherrschen wollen - Menschen, Technik, Märkte. Und Mephisto ist sein Instrument, das seine Wünsche ausführt und erfüllt.
Zwei der besten Belgrader Schauspieler, Predrag Ejdus und Tihomir Stanic, übernahmen die Rollen des Faust und des Mephisto. Gretchen teilte ich in drei Figuren, die den Visionen des 50-jährigen Mannes folgen, der von Frauen wenig weiß: eine Kindfrau, eine selbstbewusste Frau, die gegen ihre Opferrolle rebelliert, und die blöde Blonde mit dem dicken Zopf. Diese Rollen besetzte ich mit drei begabten Debütantinnen. Dann wurde es mühsam: die Schauspieler des ehrwürdigen Hauses weigerten sich, in Episoden aufzutreten. Am Nationaltheater ist es noch möglich, Rollen abzulehnen, die Schauspieler sind unkündbar. Auch den Komponisten und die Choreografin fand ich nur außerhalb. Dieses Dreisparten-Theater von "nationaler Bedeutung" war ein Moloch mit über 700 Mitarbeitern und zwölf Jahre lang in den Händen von Anhängern Milosevics. Die politisch unbequemen verließen in dieser Zeit das Haus, vor allem Opernsänger und Ballettsolisten. Man trifft sie heute in Magdeburg, Rom oder Huston.
Nicht an die Bomben der NATO erinnern
Die Probenarbeit war eine Schinderei, oft fehlten Darsteller, weil sie Filmrollen übernahmen. Ihre Theater-Honorare reichten nicht zum Überleben. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihre Abwesenheit und Erschöpfung zu tolerieren. Wenn möglich, fütterte ich sie nicht nur mit meinen Ideen, sondern auch mit warmen Mahlzeiten.
Noch spielten wir in den Probenräumen des Theaters, und ich drängte die technische Leitung, uns endlich Proben in der eigentlichen Spielstätte zu ermöglichen. Es gab nur Ausreden. Eines Tages bemerkte ich, dass die Theaterschneiderei noch nicht mit den Kostümen begonnen hatte. Der Intendant war plötzlich unauffindbar, um bald darauf kleinlaut mitzuteilen, das Ministerium habe die weitere Finanzierung des Faust abgelehnt. Die für die Inszenierung eingeplante Summe sei für die Stromrechnungen des Theaters der vergangenen drei Jahren drauf gegangen. Alle Türen schienen verschlossen, überall war nur ein Nein zu hören.
Da zeigten meine beiden Hauptdarsteller Größe: "Wir probieren weiter, wenn es sein muss, auch nachts." Die meisten Darsteller, die noch keinen Dinar für die schon dreimonatige Probenarbeit bekommen hatten, erklärten sich gleichfalls bereit, ohne Geld weiterzuarbeiten. Das technische Personal belächelte uns, und die Feinde des Projekts behinderten uns, wo sie konnten.
Das Nationaltheater von Belgrad ist Serbien im Kleinformat: ein Drittel kreativ und weltoffen, ein Drittel nationalistisch und intolerant, ein Drittel apathisch und gleichgültig. Ich ging betteln: das Goethe-Institut in Belgrad versprach eine kleine Summe und wünschte Glück. Mehr konnten die sympathischen Mitarbeiter nicht bieten, Belgrad stand nicht auf der Prioritätenliste des deutschen Außenministers. Der serbische Kulturminister, einst selbst Schauspieler, den ich von früher gut kannte, versprach Geld, aber meinte das Gegenteil. Der Intendant bat mich zu einem Gespräch und teilte mir mit ernstem Gesicht mit, politisch sei es nicht opportun, den Faust in den von der NATO hinterlassenen Ruinen aufzuführen. Es läge nicht im Interesse des demokratischen Serbiens, bei seinen Kreditgebern die Erinnerung an die NATO-Intervention wachzurufen. Würde ich auf diese Idee verzichten, käme die Arbeit wieder in Gang.
Linkes Denken, dachte ich, scheint für das nächste Jahrhundert auf dem Balkan desavouiert. Aber ich beugte mich und nahm Abschied von der NATO-Ruine. Als Ersatz schlug der Intendant eine Industrieruine vor, doch lagen die ins Auge gefassten Schauplätze zu weit von Stadtzentrum entfernt und wirkten teilweise viel zu romantisch mit ihren alten Backsteinarchitekturen. Mein Faust gehört in die Gegenwart und in die Zukunft. Es ist ein prophetisches Werk, von Goethe an der Schwelle des räuberischen, kapitalistischen Zeitalters geschrieben, mit Furcht vor der sich beschleunigenden Entwicklung und als Warnung.
Am dritten Tag bat ich nach einer Vorstellung den diensthabenden Theatermeister, mit mir eine Begehung des Bühnenbereiches zu machen. Wir kletterten nachts auf Galerien, drückten uns an Kulissen vorbei durch die Unter- und Hinterbühne, stiegen ins Untergeschoss. Am Ende dieser Begehung wusste ich, dass sich Fausts Reise auch durch die Räume des Theaters machen ließ. Und die Zuschauer sollten mitreisen, von Ort zu Ort, von Akt zu Akt. Geld für die Produktion war auf einmal da, wenn auch nicht die ursprünglich gedachte Summe.
Die notwendige neue Fassung wollte ich im Sommer an der Adria herstellen, in der Bucht von Kotor oder Kattaro, die zu Montenegro gehört. Dort trafen wir uns alle, der Mephisto-Darsteller, der Faust. Es war nicht verabredet, und wir schworen uns, nicht an die Arbeit zu denken, aber wir redeten unablässig über den Faust. Beim Schwimmen fielen uns Ideen ein, beim Fischessen verwarfen wir sie wieder, beim Rotwein auf der Marmorterrasse unseres Palazzo flogen uns neue Einfälle zu. Die Leichtigkeit des Südens bemächtigte sich des nördlichen Genies. Die wichtigste Phase der Arbeit geschah in diesem Sommer: die Aneignung der Rollen durch die Protagonisten.
Dann wurde es wirklich ernst. Wir probten im Herbst und beginnenden Winter, die Darsteller jobbten wie immer nebenbei, ich schrieb in den Nächten Texte um, besorgte Geld, wir waren erschöpft und euphorisiert zugleich, ich suchte Verbündete unter den Technikern, kämpfte gegen Mutlosigkeiten, die Presse begann, sich zu interessieren.
Die Premiere von Faust I fand im Dezember 2002 statt, im Januar 2003 folgte der zweite Teil. Das "Unternehmen Faust" wurde zu einem Erfolg, das Publikum, ein junges vor allem, entdeckte Goethe und zugleich die eigene Zeit des Umbruchs in seinem Lebenswerk. Die Inszenierung steht bis heute auf dem Spielplan des Nationaltheaters.
Freunde im Himmel, aber auch in der Hölle
Am 12. März 2003 wurde Premierminister Djindjic erschossen. Der serbische Faust, gegen den ich mehr und mehr Vorbehalte hatte und dem ich doch Erfolg wünschte, war den Machtkämpfen hinter den Kulissen erlegen. Der promovierte Habermas-Schüler, der Philosoph, die Galionsfigur der "friedlichen Revolution" vom Herbst 2000, der machtbewusste Träumer, der seine Helfer auch unter den zwielichtigen "Ausgeburten der Hölle" suchte, fiel als Opfer jener "Geister", die er selbst gerufen hatte. Ob sich dann Engel und Teufel um seine Seele gestritten haben? Wenige Wochen vor dem Attentat hatte Djindjic in einem Interview für die Süddeutsche Zeitung gesagt, er habe in der historischen Phase, in der er eine eingreifende Rolle spielen wollte, "ohne Freunde im Himmel, aber auch in der Hölle" nicht auskommen können.
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