Dann lieber zurück

Türkei Über eine Million syrische Flüchtlinge hat das Land seit 2011 aufgenommen. Die Regierung wirkt überfordert, die einheimische Bevölkerung auch
Ausgabe 38/2014
Im Abbruchhaus: Nahed (Mitte) mit ihrem Schwiegervater Ali
Im Abbruchhaus: Nahed (Mitte) mit ihrem Schwiegervater Ali

Foto: Jodi Hilton

Nahed sitzt auf einem Kissen, an die kahle Hauswand gelehnt. Sie rückt ihr Kopftuch zurecht, zündet sich eine Zigarette an und streicht über ihren dicken Bauch. Bald wird das Baby kommen. Als sie den irritierten Blick bemerkt, lacht sie. „Rauchen ist das kleinere Problem. In Syrien, da wäre ich jetzt vielleicht schon tot, und mit mir das Kind.“ Wird es in Istanbul geboren, dann weit weg vom Bürgerkrieg und vom Haus der Eltern bei Homs, zerstört schon vor Monaten.

Der Raum, den Nahed jetzt „mein Wohnzimmer“ nennt, ist nur ein paar Quadratmeter groß und liegt im Erdgeschoss eines halb verfallenen Hauses im Istanbuler Viertel Fatih. Im Flur tropft Wasser aus einer kaputten Leitung von der Decke. Vor acht Monaten hat Nahed mit ihrer Familie Syrien den Rücken gekehrt – mit ihrem Mann Dschihad, dem zweijährigen Sohn, ihren Schwiegereltern Ali und Fatima und deren Kindern. Eine Großfamilie – 20 Menschen im Exil auf zwei Häuser verteilt, die bald abgerissen werden. Man hat den Boden notdürftig mit Teppichen bedeckt und an die Wände weiße Tücher mit Spitzen gehängt. Sie verdecken Wasserflecken und Schimmel. Ein Sittich zwitschert im Käfig. Alles ist so hergerichtet, dass der anstehende Abriss nie in Vergessenheit gerät. Eine Miete wird nicht mehr verlangt von der Stadt Istanbul, die hier nur noch den Verfall verwaltet. Wann der sein ultimatives Stadium erreicht, weiß die Familie nicht.

Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs im März 2011 nimmt die Türkei Hilfesuchende aus dem Nachbarland auf. Inzwischen leben hier laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR etwa 800.000 registrierte Emigranten, davon aber nur 220.000 in Lagern. Mit den Nichtregistrierten dürften es deutlich mehr sein. Der ehemalige Vizepremier Beşir Atalay spricht von geschätzten 1,3 Millionen, die vornehmlich in den Grenzprovinzen zu Syrien sowie in Metropolen wie Istanbul, Ankara und Izmir leben. Wer es sich leisten kann, mietet eine Wohnung. Das treibt die Mietpreise nach oben, die sich in den betroffenen Städten seit 2011 teils verdreifacht haben.

22 Camps ließ die Regierung im Süden des Landes aufbauen – Zelt- und Containerstädte, die international für ihre Standards gelobt werden. Mehr als 2,5 Milliarden Dollar will der türkische Staat dafür ausgegeben haben, ohne zu wissen, was geschehen soll, falls die Gäste noch Jahre bleiben. Deren Aufenthaltsstatus ist diffus, sie alle stehen unter „temporärem Schutz“, heißt es, doch moniert Amnesty International, dass die Behörden nicht sagen, was das genau bedeutet. Werden Kinder wie das von Nahed außerhalb der Camps geboren, erfolgt keinerlei Registratur. Offiziell existiert das Neugeborene demzufolge nicht.

Im Übergang

Oft geht die Übersicht verloren, wo sich Flüchtlinge genau aufhalten. Die Mittellosen – wie Naheds Familie – leben auf der Straße oder in leerstehenden Häusern, sind vom Wohlgefallen der Nachbarn abhängig oder betteln. Naheds Ehemann Dschihad hilft manchmal illegal in einem Restaurant – ohne Arbeitserlaubnis, auf die er vergeblich warten müsste, wollte er sie beantragen. Nahed redet nicht gern von ihrer Flucht und überlässt das der Schwiegermutter.

Die Familie stamme aus der Nähe von Homs, erzählt dann Fatima. Zuerst sei man in einem Flüchtlingslager in Şanlıurfa in der südöstlichen Türkei gelandet. Auf die Frage, warum die Familie nicht dort blieb, hebt Fatima erregt die Hände. „Zu viele Leute, zu viele Konfessionen, zu viel Durcheinander. In Istanbul ist es besser. Wir dürfen Wasser aus der Moschee holen, viele Türken bringen uns Essen. Auf der Straße verkaufen die Kinder Taschentücher.“

Genau das will Hüseyin Avni Mutlu, der Gouverneur von Istanbul, nicht mehr sehen und kündigt an, Syrer notfalls gegen ihren Willen in Lager zu schicken. Fatima schüttelt energisch den Kopf. „Lieber gehe ich zurück nach Syrien.“

Das Quartier, in dem die Familie untergekommen ist, gehört zu einem „Stadterneuerungsprojekt“. Manche Gebäude hat die Stadt renoviert, viele abgerissen. Türken, die hier gelebt haben, mussten ihre Häuser häufig gegen ihren Willen aufgeben. Nun bieten sie Flüchtlingen vorübergehend Obdach. Ein Bauzaun sperrt das Gelände notdürftig ab, ein Schild warnt vor den Gefahren zwischen Schutthalden und Mauerresten. Kinder spielen dennoch in dieser Ruinenlandschaft und gehen in keine Schule, was laut Kinderhilfswerk UNICEF auf 73 Prozent der sechs- bis vierzehnjährigen Syrer in der Türkei zutrifft.

Die Retter

Bisher zeigen sich viele Türken großzügig und gastfreundlich. Doch steigende Mietpreise und die Angst, dass sich Dschihadisten unter die Flüchtlinge mischen, sind zwei von vielen Gründen, warum die Akzeptanz für die Emigranten schwindet. Als im August ein Syrer seinen türkischen Vermieter in der Stadt Gaziantep ermordet hatte, machte dort ein Mob Jagd auf die Flüchtlinge. Demonstranten stachen mit Messern um sich und zerstörten Autos mit syrischen Nummernschildern. Wenig später verbreitete sich das Gerücht, Syrer hätten das Trinkwasser der Stadt vergiftet. Panik brach aus. Fatma Şahin, die Bürgermeisterin von Gaziantep, dementierte die Verleumdung und sprach von „haltlosen und bösartigen Anschuldigungen“, die dazu dienten, Unruhe zu stiften.

Der neue türkische Präsident Tayyip Erdoğan hat bislang eine „Politik der offenen Tür“ betrieben. Er meinte noch im Wahlkampf: „Niemand, der um sein Leben fürchten muss, wird zurückgeschickt.“ Die Flüchtlinge lieben ihn dafür. So wie Fatima und Nahed. „Erdoğan hat uns gerettet. Schreiben Sie bloß nichts Schlechtes über ihn.“ Die Familie hatte Glück, alle verfügten auf der Flucht über gültige Pässe und konnten daher einen offiziellen Grenzübergang nehmen. Viele seien ohne Papiere gekommen und hätten sich anfangs darauf verlassen können, von den türkischen Grenzposten durchgewunken zu werden, erinnert sich Andrew Gardner, Türkei-Experte von Amnesty International. Inzwischen müssten Flüchtlinge oft auf illegalen Wegen in die Türkei einsickern. Das sei gefährlich, es müssten Grenzregionen durchquert werden, in denen es Minenfelder gäbe.

Die Aufnahme von Flüchtlingen wird nicht nur in der Türkei immer schwieriger. Auch Asylländer wie Libanon, Irak und Jordanien fühlen sich zusehends überfordert. UN-Flüchtlingskommissar António Guterres kritisiert: „Bis jetzt schafft es die Welt nicht, angemessen auf Nöte der Flüchtlinge und der Aufnahmeländer zur reagieren.“

Nahed und ihre Familie wissen, dass sie weiter auf sich allein gestellt bleiben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie ihre Istanbuler Ruine verlassen müssen. Aber weder Nahed noch Fatima wollen an eine Lage denken, die sie in noch größere Existenznot stürzen könnte. Wenn es so weit ist, wird Nahed ins nächste Krankenhaus gehen und ihr Baby zur Welt bringen. Eine Geburtsurkunde wird es für das Kind nicht geben, aber Nahed hofft, den Sohn oder die Tochter wenigstens auf eine Schule schicken zu können, wenn es so weit ist.

Mirjam Schmitt ist Islamwissenschaftlerin und derzeit freie Journalistin in Istanbul

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