In unserer Wahrnehmung erscheinen der internationale Terrorismus und die Taleban als ein und dasselbe Problem, sie sind es jedoch nicht. Richtig ist, dass zwischen beiden in der Gestalt von Osama bin Laden eine Verbindung besteht. Richtig ist allerdings auch, dass es sich ihrer Natur nach um zwei völlig unterschiedliche Phänomene handelt. Die Taleban-Regierung in Afghanistan könnte auch ohne den internationalen Terrorismus noch lange ihren Gottesstaat aufrechterhalten und umgekehrt wird sich ohne die Taleban der Terrorismus nicht in Luft auflösen. Der neuartige Terrorismus, der am 11. September als politisch durchdachte und logistisch perfekte Aktion inszeniert wurde, ist nicht nur in Afghanistan zu Hause, sondern auch in Pakistan, Indien, Saudi-Arabien, Somalia, Ägypten, Indonesien, ja in fast allen Ländern des Südens, aber auch in New York, London, Paris und Hamburg. Wir sehen uns zwei Phänomen völlig unterschiedlicher Existenzweise und Qualität gegenüber, die daher auch ein völlig unterschiedliches Vorgehen verlangen. Ihre Vermengung ist intellektuell unredlich und dient dazu, die Wut der Menschen gegen den Terrorismus zur moralischen Rechtfertigung des stattfindenden Krieges gegen die Taleban zu kanalisieren.
Im Hass gegen Amerika bestätigt
Nimmt man die komplexe Realität von zwei miteinander nur bedingt verwandten Phänomenen zur Kenntnis, so sticht die Fragwürdigkeit ins Auge, das weltweit verzweigte Terrornetz mit Hilfe von Langstreckenbombern, Cruise Missiles und Bodentruppen zerschlagen zu wollen. Tatsächlich kommen für die Terrorismusbekämpfung kurzfristig nur rechtsstaatliche Mittel und eine strafrechtliche Verfolgung in Frage. Aber welche Antwort gibt es auf die Taleban-Frage?
Klar ist, das Taleban-Regime hat schon längst seine Legitimation verloren und wird alsbald einer anderen von der afghanischen Bevölkerungsmehrheit getragenen Regierung weichen müssen. Zwar hatten die Taleban bisher 90 Prozent des Landes unter ihrer Kontrolle, aber nur einen harten Kern von steinzeitlichen Glaubenskriegern hinter sich. Sie wollten den Afghanen mit Gewalt ihre eigensinnige, dem Leben abgewandte Vorstellung vom Islam aufzwingen, konnten aber für Afghanistan - wie auch ihre eigenen Anhänger - keinerlei Lebensperspektiven aufzeigen. Sie wurden stattdessen zu einem Faktor der Instabilität für Pakistan, Tadschikistan, Usbekistan, ganz Zentralasien. Andererseits bleiben die inneren Gegner der Taleban zu schwach, aus eigener Kraft einen Machtwechsel herbeizuführen. Nichtmilitärische Instrumente wie diplomatische Isolierung oder Sanktionen mussten angesichts der osmotischen ethnischen und ideologischen Vernetzung der Taleban ins Leere laufen.
Ist unter diesen Bedingungen eine Militärintervention eine politisch und moralisch legitime Lösung? Aus meiner Sicht nur, wenn sie einen friedlichen Ausweg für Afghanistan und die gesamte Region erkennen lässt. Genau aus diesem Grunde sind aber die Angriffe der USA keine Lösung. Nicht nur, weil ein solcher Krieg völkerrechtlich illegitim ist und mit allen humanitären Maßstäben bricht, auch weil er realpolitisch irrational ist und mit ziemlicher Sicherheit die Konflikte in der Region verschärfen wird. Das gesamte fundamentalistische Taleban-Umfeld, nicht nur in Pakistan, auch in Indien, Ägypten, Somalia, in Palästina, letztlich in allen arabischen Golfstaaten, fühlt sich in seinem Hass gegen Amerika bestätigt und aufgefordert, gegen die eigenen Regierungen vorzugehen, in der gesamten Region einen Flächenbrand auszulösen und den USA wie anderen NATO-Staaten neue Terroranschläge - jetzt erst recht - anzudrohen. Die Taleban selbst dürften mit ihrer vor dem 7. Oktober - dem Tag der ersten Angriffe auf Kabul und andere Städte - bröckelnden ethnischen Basis, den Paschtunen, wieder zusammengeschweißt werden.
Für dieses Szenario gibt es einen unbestreitbaren Grund: Die Zahl jener in Zentralasien und der Golfregion, die eine US-Intervention ablehnen, ist derzeit überwältigend - die Anti-Taleban-Front in Afghanistan dagegen ziemlich schwach. Ein militärischer Sieg bleibt trotz des Beistandes der Amerikaner völlig ungewiss.
Europas zivilisatorische Stärken
Dennoch wäre es falsch, jetzt in eine hoffnungslose Depression zu verfallen. Es gibt Alternativen zu einem Flächenbrand in einer der geopolitisch sensibelsten Regionen der Welt. Sie sind auch nach der derzeitigen Eskalation keinesfalls hinfällig - ganz im Gegenteil, auf sie lässt sich jederzeit zurückgreifen, sobald durch den Gang der Ereignisse die Risiken immer unkalkulierbarer werden.
Für einen Weg aus der Krise erscheinen fünf Essentials unverzichtbar. Erstens: Akteure einer Absetzung der Taleban müssen die Nachbarstaaten - Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan, Iran und Pakistan - im Abgleich mit der innerafghanischen Anti-Taleban-Front sein und als Staatengruppe auch den Schutz einer neuen Regierung garantieren. Zweitens: Die Absetzung der Taleban erfolgt mit UN-Mandat, wobei es auch Sache der Vereinten Nationen ist, Ziel und Zeitrahmen des Mandats der Schutzmächte festzulegen. Drittens: Nach dem Sturz der Taleban und der Bildung eines Übergangskabinetts entscheidet ein Referendum über die Regierung und Verfassung Afghanistans. Zugleich wird - viertens - ein multilateral finanzierter Fonds gebildet, um die zerstörte Infrastruktur des Landes wieder aufzubauen, besonders die Nahrungsmittelproduktion anzukurbeln und der Bevölkerung überhaupt eine Perspektive zu geben. Fünftens müssen die USA den Abbau ihrer Militärbasen auf den Territorien der arabischen Staaten am Persischen Golf in absehbarer Zeit garantieren und zugleich das Vorhaben mittragen, eine kollektive Sicherheitsordnung im Mittleren Osten einzurichten, um regionale Spannungen zu mindern und die Erdöl- wie Erdgasquellen zu sichern.
Fünf-Punkte-Friedensplan
Machtwechsel: Eine Absetzung der Taleban ist Sache der Nachbarstaaten Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan, Iran und Pakistan in Abstimmung mit der Anti-Taleban-Front im Inneren. Die Staatengruppe garantiert auch den Schutz einer Übergangsregierung.
UN-Mandat: Die Vereinten Nationen erteilen ein Mandat für den Machtwechsel und legen damit Ziel und Zeitrahmen des Engagements der Schutzmächte fest.
Referendum: Ein nationales Referendum entscheidet über die künftige Regierung und Verfassung Afghanistans.
Hilfsmaßnahmen: Ein multilateral finanzierter Fonds ermöglicht den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur.
US-Abzug: Die USA räumen ihre Militärbasen in den Staaten am Persischen Golf und unterstützen ein kollektives Sicherheitssystem im Mittleren Osten.
Und Europa? Auch die Reformkräfte in Europa stehen vor der Alternative, sich weiter vasallenhaft hinter der US-Politik zu verstecken und Untätigkeit mit der Legende vom beschränkten Handlungsspielraum zu rechtfertigen oder aber außenpolitisch erwachsen zu werden, mit Blick auf eigene Interessen eine eigenständige Nah- und Mittelost-Politik zu entwickeln und Amerika für die langfristig beste Lösung der Krise im Mittleren Osten - nämlich die Friedensperspektive - zu ermuntern. Europa hätte jetzt Gelegenheit, zivilisatorische Stärke zu zeigen.
Der Autor ist Politikwissenschaftler an der Universität Osnabrück mit den Lehr- und Forschungsschwerpunkten: Friedens- und Konfliktforschung, Naher und Mittlerer Osten, Nord-Süd-Konflikt.
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