VERBLIEBENE CHANCE Trotz des Krieges gegen Jugoslawien kann die rot-grüne Regierung noch immer den Wandel zu einer perspektivreichen europäischen Außenpolitik einläuten
Die NATO und die Bundesregierung haben ein Problem, nämlich Slobodan Milosevic. Die Lösung dieses Problems, heißt es, sei der militärische Sieg - die moralische Begründung dafür ist der Schutz der Kosovo-Albaner. Das »Dilemma« zwischen Menschenrechten und Völkerrecht sei zugunsten der Menschenrechte im Kosovo nur durch die Verletzung des Völkerrechts zu lösen. Die NATO führe eigentlich keinen Krieg, sondern nur »Luftschläge«, ein paar »Kollateralschäden« wie gerade bei der Zerstörung von Bussen mit Zivilisten im Kosovo seien bedauerliche Nebenwirkungen.
Für mich als Politikwissenschaftler iranischer Herkunft und als kritischer Beobachter der NATO-Strategie in den vergangenen 20 Jahren gibt es
en gibt es zwei Probleme, nämlich das »System Milosevic« auf der einen Seite und die NATO auf der anderen. Beide Seiten treiben den Teufelskreis der Kriegseskalation an. Wir alle sind gleichzeitig mit der menschlichen Tragödie von Millionen Kosovo-Albanern und von Millionen Serben in Ganz-Jugoslawien konfrontiert, deren Menschenrechte, deren Würde und deren Existenzgrundlagen nunmehr nicht nur durch das »Regime Milosevic«, sondern auch durch den NATO-Krieg zerstört werden.Das mit dem Kosovo-Krieg immer wieder beklagte »Dilemma« zwischen Völkerrecht und Menschenrecht stellt sich in Wahrheit als eine willkürliche Konstruktion heraus. Durch den jetzigen Krieg hat die NATO das Völkerrecht gebrochen, im Kosovo Menschenrechtsverletzungen unermeßlich verschärft und in Serbien selbst verursacht. Menschenrecht und Völkerrecht, Menschenrecht und Frieden gehören vielmehr elementar zusammen. Der NATO ging es im Kosovo offenbar nicht um den Schutz der Kosovo-Albaner, sondern - von langer Hand geplant - darum, die von George Bush 1990/91 im zweiten Golfkrieg verkündete Neue Weltordnung unter US-amerikanischer Hegemonie zu vollenden.Der Schurkenstaat von Saddam Hussein spürte schon im zweiten Golfkrieg - damals noch mit UN-Mandat - die Gewalt dieser Neuen Ordnung. In Bosnien führte die NATO die UN und deren Beauftragten Akashi regelrecht vor, um sich selbst als neue internationale Ordnungsmacht - auch bei gewaltsamen Konflikten in Europa - ins Bild zu setzten. Im Dezember 1998 bombardierte die anglo-amerikanische Allianz ohne UN-Mandat und ohne einen nachvollziehbaren Grund erneut Bagdad und schob die lästigen UN endgültig beiseite. In Rambouillet schuf sich die NATO selbst den Vorwand, kurz vor den Feierlichkeiten ihres 50-jährigen Bestehens durch einen raschen militärischen Sieg gegen Milosevic aller Welt zu verkünden, daß ab sofort nicht die UN und das Völkerrecht, sondern das Faustrecht der NATO die Regeln der Weltpolitik definieren.Der Irak wurde halb zerstört, und Jugoslawien wird zerstört. Unermeßliche zivile Opfer wurden und werden dabei bewußt in Kauf genommen. Die »Schurken-Regimes« von Saddam Hussein und Slobodan Milosevic sitzen aber stabiler denn je in ihren Sätteln. Das System Milosevic dürfte für die Serben nach einem Krieg, der die zivilen Versorgungseinrichtungen Jugoslawiens so massiv zerstört haben wird, geradezu unentbehrlich sein, weil dieses Regime - wie übrigens auch das von Saddam Hussein - auf Jahre als einzig intakter Apparat die Ernährung der Bevölkerung sicherstellen und sich so unentbehrlich machen kann. Wird nun in Jugoslawien der Fehler aus dem Irak wiederholt oder ist der Erhalt von »Schurkenregimes« sogar Bestandteil der neuen NATO-Strategie? Tatsache ist, daß die anglo-amerikanische Allianz nur bei einer Fortdauer des irakischen Regimes ihre massive militärische Präsenz am Persischen Golf legitimieren, das Wettrüsten in der Region und eigene Rüstungsexporte fortsetzen und störungsfreie Ölexporte zu Dumpingpreisen in Gang halten kann. Fakt ist auch, daß die Fortexistenz des Systems Milosevic den Vorwand für eine dauerhafte Präsenz der NATO auf dem Balkan, in Albanien und Mazedonien sowie das Vorrücken der Allianz in Richtung Mittlerer Osten und Südflanke Rußlands liefern würde. Hängt nicht auch die Existenz der »Schurkenstaaten« von einer aggressiven NATO ab, die letztere als Feindbild für die Stabilität ihrer Systeme so dringend brauchen? Gibt es eine »Unheilige Allianz« zwischen der NATO und den »Schurkenstaaten«, die erstere im Namen der Menschenrechte zu beseitigen vorgibt? Viele Indizien sprechen dafür, diese Fragen zu bejahen. In dieser Allianz nehmen die Schurkenstaaten und die NATO gleichermaßen die Zerstörung der ökologischen und ökonomischen Lebensgrundlagen, menschliches Leid, Vertreibung und Tötung von Hunderttausenden billigend in Kauf. Spräche man dieser Analyse eine Plausibilität nicht ab, so befände sich damit die westliche Militärallianz moralisch auf derselben Stufe der Barbarei, wie die angeblich zu bekämpfenden »Schurkenstaaten«. Daß die Barbarei der westlichen Allianz demokratisch legitimiert ist, wirft eher einen dunklen Schatten auf die politischen Systeme, denen es keine gravierenden Schwierigkeiten bereitet, die Legitimation für diese Barbarei zu liefern.Die neue NATO-Strategie, weitgehende Handlungsfreiheit durch militärische Intervention - auch ohne UN-Mandat - vorrangig für die USA und in zweiter Linie auch für andere Mitgliedsstaaten der Allianz zu erringen, ist vom Motiv her nicht neu. Sie soll weiterhin alle möglichen Störungen einer auf die eigenen kurzfristigen Interessen zugeschnittenen wirtschaftlichen Globalisierung im Keime ersticken. Die sich daraus ergebenden strategischen Ziele außerhalb der Allianz sind erstens: Isolierung und Bändigung der noch militärischen Supermacht Rußland, zweitens: unmittelbarer militärischer Zugriff zu den Öl- und Gasquellen am Persischen Golf und Kaspischen Meer sowie zu strategischen Rohstoffen auf allen Kontinenten, um die eigene »störungsfreie Versorgung« zu niedrigen Preisen abzusichern. Die militärische Hauptlast der »Verteidigung westlicher Lebensadern« in der Welt durch kostspielige Stationierungen und Militäreinsätze tragen die USA und deren treuester europäischer Bündnispartner Großbritannien, das nur an der Seite der Amerikaner seine militärische Stärke in Europa in eine politisch stärkere Verhandlungsposition gegenüber den übrigen EU-Staaten ummünzen kann.Die anglo-amerikanische »Verantwortung« hat für die übrigen Mitgliedsstaaten innerhalb der Allianz allerdings ihren Preis, bleiben sie doch fast alle - um der kurzfristigen Interessen willen - von diesem anglo-amerikanischen Schulterschluß abhängig. Sie sind dadurch sogar erpreßbar und können im globalen Wettbewerb um Märkte und Ressourcen indirekt in die Schranken gewiesen werden, zumal durch die Euro-Einführung und eine ökonomisch stärkere und selbstbewußtere EU der Verteilungskampf in der Weltwirtschaft aggressivere Züge annimmt. Der Krieg der anglo-amerikanischen Allianz gegen Saddam Hussein und ihre militärische Präsenz am Persischen Golf hat also auch Adressaten innerhalb des westlichen Bündnisses - und der Krieg einer anglo-amerikanisch dominierten NATO auf dem Balkan kreist nicht nur in östlicher Richtung Rußland, sondern auch in westlicher die Eurozone ein.Warum aber tragen europäische NATO-Mitglieder, warum trägt die Bundesregierung diese Strategie mit, wenn es wahr ist, daß die USA die NATO zur Disziplinierung der EU instrumentalisieren und deren Handlungsfreiheit gegenüber allen Weltregionen vom eigenen Gutdünken abhängig machen wollen? Aus meiner Sicht waren es schon immer neben sicherheitspolitischen Gesichtspunkten in der Ära des Kalten Krieges auch die kurzfristigen Interessen westeuropäischer Industriestaaten an störungsfreier und preisgünstiger Energie- und Rohstoffversorgung und deren Angst, ohne US-Kontrolle über die rohstoffreichen Regionen (besonders am Persischen Golf) stranguliert zu werden. So opfern die Europäer die ungeahnten Vorzüge einer von den USA unabhängigen Perspektive der ökonomischen, politischen und kulturellen Kooperation mit dem Balkan und vor allem mit Rußland sowie allen Ländern des Mittleren Ostens. Eine Perspektive, die das herrschende Klima des Wettrüstens und der Zwietracht zum beidseitigen Vorteil ablösen und gänzlich neue Möglichkeiten - etwa innerhalb der OSZE - eröffnen könnte.Die Zwangsjacke der neuen NATO-Strategie treibt die europäischen Staaten - besonders die rot-grüne Bundesregierung - durch dauernde Beschäftigung mit Militäreinsätzen in aller Welt unweigerlich dazu, alle ihre öko-sozialen Reformprojekte ad acta zu legen. Das könnte die Konsequenz haben, daß die USA ihre europäischen Kritiker des American way of life endlich los sein werden und es für den Erhalt des ökologisch zerstörerischen und sozial explosiven Status quo keine Hindernisse mehr gibt. Damit hätte das rot-grüne Reformprojekt endgültig jegliche Legitimation verloren. Aber welche Existenzberechtigung hätten Bündnisgrüne überhaupt noch, wenn sie alle ihre ökologischen, sozialen, friedens- und letztlich auch menschenrechtspolitischen Projekte auf dem Altar dieser NATO-Strategie opferten?Noch ist nicht alles verloren. Milosevics unnachgiebige Haltung führt ungewollt auch die Grenzen des NATO-Abenteuers vor. Tieferes Nachdenken der Europäer über diese Grenzen ist die Grundvoraussetzung für einen Sinneswandel zur Stärkung ihrer Selbständigkeit und ihrer mittelfristigen Kooperations- und Reformperspektiven. Eine Niederlage der NATO in Jugoslawien könnte für dieses Nachdenken nur förderlich sein. Die rot-grüne Bundesregierung wäre m. E. so keineswegs am Ende - im Gegenteil hätte sie trotz ihrer strategischen Fehler in Rambouillet die historische Chance, diese wieder gutzumachen und den Wandel einer neuen perspektivreichen europäischen Außenpolitik einzuläuten. Insofern und in historischen Dimensionen gesehen, wäre nichts kontraproduktiver, als sich als 200prozentiger Befürworter eines Sieges der NATO hervorzutun und weiter im Teufelskreis der Logik von kurzfristigen Interessen zu verharren.Es wäre katastrophal und verantwortungslos, sich zum Gefangenen der neuen Lüge zu machen, daß eine sofortige und einseitige Einstellung der NATO-Bombardements gegen Jugoslawien Milosevic zu weiteren Vertreibungen von Kosovo-Albanern und zu noch mehr Greueltaten Anlaß geben würde. Derartige Spekulationen dienen weiterhin der eigenen Selbsttäuschung und Verblendung vor der neuen in den Wäldern des Kosovo und den Flüchtlingscamps sich anbahnenden menschlichen Tragödie, die dann von den NATO-Verteidigungsministern propagandistisch in den Teufelskreis von Milose vics Greueltaten und Fortsetzung des NATO-Krieges eingebaut würde. Noch grausamer für die entrechteten Kosovo-Albaner kann es eigentlich nicht mehr werden.Ein einseitiger Waffenstillstand ist - auch im Interesse von Hunderttausenden derjenigen, die alsbald einem Hungertod zum Opfer fallen könnten - dringend geboten, da nur so die Chancen für eine Zustimmung Belgrads zu einem humanitären Korridor zwecks schneller Rettung der bedrohten Menschen steigen. Ein einseitiger Waffenstillstand der NATO ist die Voraussetzung dafür, daß politisch verhandelt werden kann. Nur ein Friedensangebot, das von der großen Mehrheit der durch die NATO inzwischen gedemütigten Serben akzeptiert würde, wäre geeignet, das Milosevic-System in die Enge zu treiben - und nicht die Fortsetzung des Krieges. Nur ein europäischer Friedens- und Marshallplan für Jugoslawien und den Balkan hätte die Chance, nationalistisch-rassistischen Scheinlösungen und dem Milosevic-System die Existenzgrundlage zu entziehen. Diese Perspektive bedarf allerdings der Weitsicht, der Aufrichtigkeit und des Mutes bei Europas Regierungen - nur zu.Unser Autor ist Politikwissenschaftler an der Universität Osnabrück. Als Parallelartikel zur vorliegenden Betrachtung erschien in der Zeitschrift Wissenschaft und Frieden, Nr. 1/1999, sein Aufsatz: "Die Unheilige Allianz mit dem irakischen Diktator«.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.