Die Krise hat den Arbeitsmarkt erreicht, die Zahl der offiziell als erwerbslos gemeldeten Menschen wieder die Drei-Millionen-Grenze durchbrochen. Und es gibt keinen Grund jenen Vorhersagen zu misstrauen, nach denen es im gerade begonnenen Jahr noch deutlich mehr werden. Bis zu zwei Millionen neue Arbeitslose sagen düstere Prognosen der Experten voraus. Angebliche "Jobgarantien" der Großkonzerne und "Schutzschirme" für Arbeitsplätze werden sich als Symbolpolitik erweisen.
Könnte irgendein Unternehmer unter den Bedingungen der gegenwärtigen Krise überhaupt eine Zusage machen, niemanden zu entlassen - ohne sich bald schon durch Wortbruch zu blamieren? Zum Beispiel die Autoindustrie: Seit Jahren hat die Branche Überkapazitäten aufgebaut. Da sich jetzt das Finanzdebakel und die Rezession zeitgleich mit voller Wucht entfalten, bleibt den Unternehmen keine andere Wahl, als diese abzubauen. Dabei werden qualifizierte Arbeitskräfte für Monate in Kurzarbeit geschickt oder auf die Straße gesetzt.
Wenn keine Arbeit vorhanden ist, wenn bei Zulieferern, Mittelständlern und Handwerkern die Aufträge ausbleiben, dann nützt es auch nichts, durch neuerlichen Verzicht der Beschäftigten die Kosten zu senken. Insofern sollten die Gewerkschaften nicht abermals der Illusion erliegen, mit Zugeständnissen an die Arbeitgeber könnte Beschäftigung gesichert oder gar aufgebaut werden.
Um die alten Jobs zu behalten und neue zu schaffen, gibt es momentan nicht viele Möglichkeiten. Aus dem Konjunkturprogramm der Bundesregierung könnten zumindest die versprochenen Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Kommunen positiv wirken. Der Beschäftigungseffekt, der mit dem in dieser Woche auf den Weg gebrachten Paket erzielt werden kann, dürfte freilich nicht sonderlich groß ausfallen. Von einem deutlichen Beitrag gegen bestehende und kommende Massenarbeitslosigkeit ganz zu schweigen. Auch die erweiterten Möglichkeiten zur Inanspruchnahme von Kurzarbeit in betroffenen Betrieben sind keine Lösung. Solche mit Steuergeldern subventionierten Maßnahmen dienen bestenfalls der Aufschiebung des Problems.
Warum nicht auf Nummer sicher gehen und eine radikale Konsequenz aus der Misere ziehen? Eine generelle und deutliche Verkürzung der Arbeitszeit, gemeinsam von den Tarifparteien vereinbart, ist die einzig tatsächlich beschäftigungswirksame und auch dauerhafte Alternative. Um die offiziell gemeldeten über drei Millionen Erwerbslosen in Arbeit zu bringen und die prognostizierte Entlassung von bis zu zwei Millionen Beschäftigten in diesem Jahr zu verhindern, müsste die durchschnittliche Arbeitszeit von gegenwärtig 37,5 Stunden um 15 Prozent auf knapp 32 Stunden in der Woche verkürzt werden. Berücksichtigt man noch jene Hunderttausende, die als Ein-Euro-Jobber völlig zu Unrecht als Erwerbstätige aufgeführt werden, dann ist eine 30-Stunden-Woche als Zielmarke das Mindeste.
Was hindert die Gewerkschaftsspitze daran, mit dieser längst fälligen Alternative in Offensive zu gehen, die in Zeiten wie diesen auf Unterstützung bei vielen Menschen zählen kann? Haben sich nicht alle Behauptungen, es gäbe "keine Alternative" zum Verzicht, zu Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich, zu dem inzwischen auf über acht Millionen Menschen angewachsenen Niedriglohnsektor, zum Leiharbeitersystem mit halbem Lohn und doppelten Zumutungen in einem der reichsten Länder als Lügen herausgestellt?
Was spricht dagegen, die 30-Stunden-Woche jetzt zu fordern? Sich mit diesem Ziel gegen die Massenarbeitslosigkeit zu wehren, das würde den Gewerkschaften einen großen Teil ihrer deutlich geschwächten Verhandlungsmacht zurückgeben. Mit einem Schlag könnte der Niedriglohnsektor verschwinden, das Leiharbeitersystem zusammenbrechen und obendrein würden auch die entwürdigenden Hartz-IV-Regeln überflüssig. Aus den frei werdenden Transfer-Mitteln könnte ein Ausgleich für untere Lohngruppen finanziert werden. Beschäftigte hätten mehr Zeit für soziale, kulturelle und persönliche Belange zur Verfügung; die gesundheitlichen Schäden infolge der Arbeitsverdichtung könnten der Vergangenheit angehören. Und all das mit der Aussicht auf starke Gewerkschaften, die mehr als bisher für die Interessen der Lohnabhängigen tun könnten.
Die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit durch drastische Arbeitszeitverkürzung und die Stärkung der Gewerkschaften könnten überdies zu einem wirkungsvollen gesellschaftlichen Hebel werden, mit dem sich dafür sorgen ließe, dass die Wertschöpfung in die Hände der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung gelangt und die Binnenkaufkraft steigt, anstatt das Geld weiter im Übermaß in die Hände einer reichen Minderheit und damit letztlich in den nicht produktiven Finanzsektor fließen zu lassen.
Also noch einmal: Wer, wenn nicht die Gewerkschaften, müssten mit einer mutigen Initiative zur drastischen Arbeitszeitverkürzung vorpreschen? Und wann, wenn nicht jetzt?
Mohssen Massarrat ist Sozialwissenschaftler und emeritierter Professor der Universität Osnabrück.
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