Was heute links ist

Jahrhundertfrage In der "Frankfurter Rundschau" beschrieb SPD-Chef Müntefering kürzlich, was für ihn heute links ist. Der Sozialwissenschaftler Mohssen Massarrat antwortet ihm

Es ist politisch hoch aktuell, die Jahrhundertfrage, „Was ist links?“, aufzuwerfen. „Links ist Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und sozialer Fortschritt, Demokratie, Internationalität und Frieden“, sagt dazu Franz Müntefering, und man kann ihm da uneingeschränkt zustimmen. Links ist allerdings auch der ständige Schutz dieser Werte. Links ist ferner die Fähigkeit, einen undurchlässigen Schutzschirm über den Lohn- und Gehaltsabhängigen, den Schwachen und Habenichtsen der Gesellschaft aufzuspannen, erst recht zur Abwehr der Neigung der Vermögenden und der Kapitaleigentümer, ihren Reichtum und ihre Macht zu Lasten der Schwächeren in der Gesellschaft zu vermehren. Die Glaubwürdigkeit einer Politik mit linkem Anspruch kann gerade an diesen Merkmalen, die Müntefering nicht erwähnt, gemessen werden, wohl kaum jedoch am bloßen Bekenntnis zu diesen Werten.
Müntefering gibt mir dankenswerterweise die Gelegenheit, die Glaubwürdigkeit einer von ihm mit vertretenen „linken“ Politik kritisch zu hinterfragen. Kann die SPD für sich in Anspruch nehmen, in den Jahren ihrer Regierungsverantwortung nach der Abwahl der Kohl-Regierung 1998, ihren Schutzschirm über linke Werte und über die Besitzlosen und Bedürftigen der Gesellschaft tatsächlich aufgespannt zu haben und war sie gar der Motor einer Weiterentwicklung linker Werte?

Wirtschaftspolitik als Opferstock

Die ehrliche Antwort bei einer unvoreingenommenen Auswertung der SPD-Politik der letzten elf Regierungsjahre heißt leider ohne Wenn und Aber NEIN!

Helmut Schmidt war der letzte SPD-Kanzler, der dem politischen Druck des in Deutschland aufgebrochenen Neoliberalismus Stand gehalten und es sogar eher vorgezogen hat, das Ende der sozialliberalen Koalition 1982 in Kauf zu nehmen, als sich dem Diktat seiner neoliberal gewendeten Koalitionspartner, der FDP des Grafen Lambsdorff, unterzuordnen.

Danach wurde das sozial orientierte Menschenbild der Sozialdemokratie von Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Stück für Stück von führenden Sozialdemokraten durch das neoliberale Menschenbild des Primats der Ökonomie und der Marktkräfte ersetzt und dadurch der rücksichtslosen Konkurrenz Tür und Tor geöffnet. Die Schirme, die die Arbeiterbewegung zusammen mit der Sozialdemokratie über Jahrzehnte zum Schutze linker Werte und der abhängig Beschäftigten aufgespannt hatte, wurden auf dem Altar der „modernen Wirtschaftspolitik“ geopfert und alle Lohn- und Gehaltsempfänger sowie die schwächsten Glieder der Gesellschaft, die Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger, Migranten etc. einem mörderischen Lohn- und Kostensenkungs-Wettbewerb ausgesetzt. Mehr noch: fortan waren nicht länger die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und die Wirtschaftspolitik, sondern die Arbeitslosen an ihrem Schicksal selber schuld.

Leiharbeit - die moderne Form der Sklaverei

Die neoliberale „Weisheit“, Arbeit gäbe es genug, es müssten lediglich die Arbeitskosten hinreichend gesenkt werden, bis alle Arbeit fänden, wurde zum Dreh- und Angelpunkt aller „Reformen“ der rot-grünen und rot-schwarzen Regierungen. Das Ergebnis ist bekannt: Die Arbeitslosigkeit sank zwar statistisch auf offiziell unter drei Millionen, zugleich entstand ein Sektor der Niedriglöhne mit über acht Millionen Beschäftigten. Es entstand ein System von Leiharbeitern (inzwischen 700.000) mit halbem Lohn und vielfach diskriminierenden Arbeitsbedingungen. Zunehmend wurden und werden normale Arbeitsplätze durch billigere Leiharbeit - die moderne Form der Sklaverei - in allen Bereichen ersetzt.

Mit der diffamierenden Unterstellung, viele Arbeitslose seien ja nur arbeitsunwillig, wurden die Hartz IV-Regeln eingeführt und Millionen Menschen durch dilettantische Schnüffelei, Zwang zum Wohnungswechsel und andere Schikanen ihrer Würde beraubt und zu Menschen zweiter und dritter Klasse degradiert.

Mit der halb wahren Behauptung „die Staatsverschuldung sei die größte Ungerechtigkeit, die es gibt“ (Hans Eichel) wurden Sozialsysteme geplündert, gleichzeitig mit dem Lohn- und Gehaltsempfängern abgenommenen Geld den Konzernen Steuergeschenke gemacht. Die Arbeitszeiten wurde erhöht und gleichzeitig die Löhne gesenkt, somit auch die Gewerkschaften geschwächt und von einem zum nächsten Zugeständnis getrieben. Doch die Liste der sozialpolitischen Skandale, die Millionen Menschen in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, zugemutet wurden, ist noch länger. Sie als unabdingbar zu bezeichnen, „weil sich auch der Sozialstaat wandeln muss“, wie (Müntefering) in seinem FR-Beitrag ausführt, ist nichts als eine aus der Luft gegriffene, um nicht zu sagen, inakzeptable Rechtfertigung der blinden Gefolgschaft der neoliberalen Maxime.

Statt die Stärkung der Solidarität zu fördern, wurde die Spaltung zwischen den Beschäftigten und Arbeitslosen vertieft, statt einer Stärkung der Solidarität zwischen Jung und Alt und zwischen den heutigen und den künftigen Generationen werden diese wie nie zuvor gegeneinander ausgespielt. Statt mehr Sicherheit zu gewährleisten, wurde die Angst der Beschäftigten, arbeitslos zu werden (laut jüngsten Umfragen leben 15 Millionen Beschäftigte in dieser ständigen Angst), zum Instrument der Anpassung und der Bereitschaft, alle nur denkbaren Zugeständnisse an das Kapital hinzunehmen. Statt die Freiheitsspielräume auszuweiten, wurde Millionen Menschen die Freiheit genommen, sich selbst für einen Job zu entscheiden. An die Stelle von Zuversicht und Optimismus trat die Ungewissheit der Menschen und die Sorge um ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder. Mit links haben diese Resultate der angeblich „modernen Wirtschaftspolitik“ nichts aber auch gar nichts zu tun, mehr noch: sie alle stellen tatsächlich einen Verrat an linken Werten und Errungenschaften der Arbeiterbewegung dar.

Im guten Glauben

Nun werden die „Verräter“ abgestraft, nicht nur dadurch, dass ihnen die Mitglieder und Wähler scharenweise davonlaufen, sondern ironischerweise auch durch die Profiteure der neoliberalen Politik: Statt mit den Billionen, die den Lohn- und Gehaltsabhängigen und Besitzlosen abgenommen wurden, mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze zu bringen, verspekulierten die Großkonzerne und Großbanken skrupellos die zusätzlich kassierten Gewinne auf den internationalen Finanz- und Immobilienmärkten und bescherten der internationalen Gemeinschaft die größte Finanz- und Weltwirtschaftskrise nach 1932, die in eine neue Welle von Kapital- und Arbeitsplatzvernichtung mit vielen neuen Millionen Arbeitslosen einmünden wird.

Ungeachtet der katastrophalen Folgen ihres Handelns sollten allerdings zwei Faktoren in Rechnung gestellt werden, die die sozialdemokratische Führung ein wenig entlasten: Erstens, könnte man argumentieren, hat sie nicht durch eigenes bewusstes Handeln neoliberale Projekte umgesetzt, sondern ist eher, ohne es zu merken, vom neuen "modernen" Geist erfasst worden und in die neoliberale Falle hineingetappt. Hierfür spricht beispielsweise das Eingeständnis von Franz Müntefering in der letzten ARD-Talkshow bei Reinhold Beckmann kurz vor Weihnachten 2008, in der er seiner Seele freien Lauf ließ: Bis vor drei Jahren habe er nicht gewusst, was genau Derivate seien. Im guten Glauben, „etwas mehr Wettbewerb“ könne Wirtschaft und Gesellschaft nicht schaden, Probleme sogar beseitigen helfen, haben Müntefering und andere führende Sozialdemokraten - so meine entlastende These - sich für neoliberale Konzepte und Instrumente stark gemacht.

Zweitens haben keynesianische Ökonomen es versäumt, angesichts von dramatischen Veränderungen globaler Rahmenbedingungen die Zeichen der Zeit zu erkennen und Keynes entsprechend zu modernisieren. Die durch den Club of Rome Anfang der siebziger Jahre festgestellten „Grenzen des Wachstums“ und die gleichzeitig stattfindende informationstechnologische Revolution lieferten jedenfalls genug handfeste Anlässe, um die traditionell keynesianischen Gleichgewichts- und Beschäftigungskonzepte auf ihre Gültigkeit zu überprüfen.

Unter den Bedingungen schrumpfender Wachstumsreserven (Rohstoffe, Flächen, Wasser) und Aufnahmekapazitäten der Atmosphäre sowie der sinkenden Wachstumsraten der Wirtschaft angesichts zunehmender Konsumsättigung führten klassisch keynesianische Politikmuster, wie die staatlich forcierte Nachfrage, eher zu mehr Inflation als zur Erhöhung der effektiven Kaufkraft. Und unter den Bedingungen der technologischen Revolution und jährlicher Steigerungsraten der Arbeitsproduktivität von zwei bis drei Prozent konnte und kann die freigesetzte Arbeit nie und nimmer, weder damals noch heute, durch Konjunkturspritzen aufgefangen werden. Ganz im Gegenteil muss klassischer Keynesianismus unter diesen Bedingungen zu Stagflation, sprich: Inflation bei gleichzeitiger Stagnation, führen, ohne der wachsenden Arbeitslosigkeit im geringsten entgegenwirken zu können.

Die historischen Antworten der keynesianischen Theorie auf die neuen Herausforderungen, nämlich schrumpfende Wachstumsreserven und zunehmende Sättigung der Märkte einerseits und dramatisch steigende Arbeitsproduktivität andererseits, hätten dagegen anders lauten müssen: ökologischer Umbau der Ökonomie durch Neudefinition staatlicher Ausgabenpolitik einerseits und sukzessive Arbeitszeitverkürzung im selben Tempo wie die steigende Arbeitsproduktivität und Umverteilung der Arbeit andererseits. Eine ökologisch und sozialpolitisch angemessene Weiterentwicklung des Keynesianismus fand jedoch nicht statt. Helmut Schmidt landete 1982 in der wirtschaftspolitischen Sackgasse von „mir sind fünf Prozent Inflation lieber als fünf Prozent Arbeitslosigkeit“. Nicht zuletzt auch dadurch wurde der Weg für den Einzug des Neoliberalismus frei, der das Vakuum ausfüllte, das der stillstehende Keynesianismus hinterließ.

Mohssen Massarrat ist deutsch-iranischer Prof. i. R. für Politik und Wirtschaft an der Universität Osnabrück. Sein letztes Buch Kapitalismus. Machtungleichheit. Nachhaltigkeit veröffentlichte Massarrat 2006 im Hamburger VSA-Verlag

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