Der Ort ist wie geschaffen. Eine stillgelegte Kabelfabrik, ein aufgegebener Heizungskeller. Die Geschichte vom Leben nach der großen Katastrophe kann nirgends besser beginnen als in dieser leergeräumten Fertigungshalle in Helsinki. Fünf Männer in Overalls erzählen mit Bauchrednerstimme von den letzten Tagen der zivilisierten Menschheit. Zwischen Daumen und Zeigefinger halten sie ein Hühnerei, das mit einem Mondgesicht bemalt ist. Und während sie die bemalten Hühnereier von der Apokalypse erzählen lassen, wird es immer finsterer in der Fabrikhalle, weil das einzige Licht von drei dynamobetriebenen Taschenlampen herkommt und die Akkus schon wieder leer sind. Plötzlich macht es Klatsch! Die Eier landen an der Betonwand und leuchten gelborange im schwachen Schein der Lampen.
Dann geht's hinab in den Heizungskeller. Dort ist es auch stockdunkel, und die Dynamolampen produzieren mehr Schatten denn Licht. Zum Glück erhielt jeder der annähernd hundert Besucher am Eingang eine Wegwerfkamera mit Blitzlicht. Flash! macht es dann allenthalben aus den unterschiedlichsten Richtungen, in die die Zuschauer gestolpert sind. Im Hagel der Blitzlichter erhellen sich für eine Folge von Sekundenbruchteilen die Bühne und die Künstler, die sich gerade - man erkennt es nur schwach - einen Pullover über den anderen anziehen und unterhalb der Gürtellinie nackt dastehen.
So beginnt das Projekt Burn cities burn der Hamburger Theatergruppe Showcase beat le mot, die im Rahmen der ArtGenda 2000 in Helsinki aufgeführt wurde. Helsinki ist in diesem Jahr zusammen mit acht weiteren Städten Kulturhauptstadt Europas und wartet mit vielfältigen künstlerischen Darbietungen auf. Unter dem Motto "Alive in the city" stellen junge Künstler aus den Ostseeanreinerstaaten Projekte und Aufführungen vor, die sich um das Leben in der Stadt drehen.
Die Künstlergruppe Showcase beat le mot hat ihr Projekt Burn cities burn bereits in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel aufgeführt und damit zwiespältige Reaktionen beim Publikum hervorgerufen. In Helsinki debütierte sie mit einer englischsprachigen Version ihres Stücks.
Sprache kommt darin zwar nur in einzelnen Passagen vor, entfesselt dann aber eine ungeheuer knisternde Atmosphäre, beispielsweise, wenn sich die Künstler plötzlich direkt an die Zuschauer wenden und gleich Geschichtenerzählern Handlungsfäden ohne Anfang und Ende entrollen, die an Textkollagen aus Comics, Science Fiction-Romanen und Sachbuchtexten erinnern und dabei so etwas sind wie die vage Antwort auf die Frage, wie das alles passieren konnte, das mit der Apokalypse. Dann folgen wieder Passagen, in denen lange kein Wort fällt und auch sonst außer bunten Lichtspielen kaum Bewegung auf der Bühne ist. Dafür schwappen zeitweilig aus einer kaum auszumachenden Entfernung und leicht blechern US-Schlagerschnulzen aus den Fünfzigern herüber, und spätestens hier hat man Zeit zum Nachdenken und Sich-Erinnern an die gute alte Zeit, als das Leben noch so war, wie diese Musik, so beschwingt und leicht und auch kitschig natürlich.
Das postinfernale Leben hat sich längst seine eigene Idylle erschaffen, seine eigenen Partys, Bräuche und Exzesse. Dabei wird nach dem Totalverlust der früheren Kultur offensichtlich gerade das Regressive lebensbestimmend. Besonders Sexualität wird mehrheitlich auf minder entwickelter Stufe gelebt und erlebt, zum Beispiel in sado-masochistischen Auswüchsen oder exhibitionistischen Darbietungen.
Kitsches Schwester ist die Nostalgie, sie darf nicht fehlen. Es gibt in dem Stück eine Reihe sehr lustiger und atmosphärisch dichter Szenen, die scheinbar leicht daherkommen und mit ihrer Unbekümmertheit überraschen, beispielsweise die Inszenierung eines alten Belafonte-Klassikers mit großen, aufgeblasenen Gummischläuchen, die wie Lippen zum Text des Liedes auf und zu gehen, oder die in schummriges Rotlicht getauchte Digeree-Doo-Nummer. So soll es auch sein, das Leben unter den brennenden Städten: witzig und ein bisschen wie ein Sonnenuntergang im Himalaja.
Das Ende aller Enden ist gewiss immer endlos langweilig. Auch in der Stadt. Diesen Aspekt hat Burn cities burn ebenfalls inszeniert. Einige Passagen wirken introvertiert, so als ginge es in ihnen vorrangig darum, dass die Künstler ihren Spaß an der eigenen Show haben. Andere kommen improvisiert daher, nicht unbedingt spontan, sondern eher verdächtig locker aneinandergereiht. Vielleicht ist das wirklich so gewollt, denn die Gruppe arbeitet bewusst ohne Regisseur und ohne klar abgegrenzte Aufgabenteilung. Entscheidend sollte jedoch sein, ob dieses Konzept der Kommunikation beim Publikum ankommt. Was diesen Aspekt betrifft, konnte man sich des Eindrucks nicht erwähren, dass Showcase beat le mot Lässigkeit gelegentlich mit Nachlässigkeit verwechselt haben.
Helsinki begeht in diesem Jahr zugleich seinen 450. Geburtstag seit der Gründung im Jahre 1550 durch den schwedischen König Gustav Vasa. Dementsprechend umfangreich ist das Aufgebot einheimischer und internationaler Künstler. Die Stadt selbst ist ein einziges Event. Aus Deutschland war kürzlich neben der Showcase beat le mot noch eine Künstlergruppe aus Kiel zu sehen, die das Projekt "Der Transformer Kubus" vorstellte.
Die Künstlerinnen und Künstler, die sich zu diesem Projekt aus den Bereichen Theater, Tanz, Choreographie, Musik und Video zusammengeschlossen haben, montierten für ihre multimediale Performance eine dreidimensionale Audio-Video-Installation auf einer schwimmenden Bühne im zentral gelegenen Hafen von Helsinki, ein mit 5x5x5 Metern visuell beeindruckender Kubus.
"Aquarium mental" kann man sich als eine Art Unterwasserfahrt der Poesie vorstellen kann. Zu live gespielten Gitarrenklängen und Plätscherkulisse erschienen türkise und rote Unterwasserwelten auf den 3D-Bildflächen des Kubus'. Bilder von Schwärmen silbern glitzernder Fische schwirrten in ständiger Bewegung im Strom der Gewässer und wechselten sich ab mit der schlichten Tiefe des Ozeans.
Als ein Bericht aus dem Buch der Identität ist das theoretisch-philosophische Beiwerk zum "Aquarium mental" untertitelt. Dieser Bericht erzählt von Geheimnissen, wie sie in alten Seekarten noch zu finden sind, und von einem Schiffbruch am Weltrand und dem darauf folgenden Absturz in den reißenden Strudel der Begriffslosigkeit. Schließlich ist man wieder im Netz der Sprache verfangen und tritt die Heimreise in den heimatlichen Hafen an. Alles Seemannsgarn?
Das Wasser färbt sich rot und im Innern wird der Schattenriss einer nixenartigen Gestalt erkennbar. Ein Wasserwanderer kommt von außen an den Kubus und nimmt die fließenden Bewegungen der Nixe auf, erst ungeübt, dann immer geschickter fühlt er ihr nach, nur getrennt von ihr durch die durchscheinende Haut des Kubus. Nach dem Schiffbruch am Weltenrand - der Strudel unsagbarer Begriffslosigkeit.
Und in der Tat, das "Aquarium mental" begreift man wohl am ehesten wortlos, als Aufruf zu einem ästhetischen Sinneserlebnis, als Appell an unsere Phantasie: Die Geborgenheit der Stadt und des Hafens, Ausfahrt auf hohe See, die Unwägbarkeiten des Meeres, der Wechsel der Gezeiten und die Rückkehr zur Stadt des Heimathafens - das Leben eine Schiffahrt? - nautische Metaphern haben noch nie Grenzen gekannt.
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