Langsam holt Leander Haußmann die Fahne mit dem Herz im Strahlenkranz von der Fassade des Bochumer Schauspielhauses herunter. Herztöne pochen über den Vorplatz. Auf dem Balkon erscheint für einen Moment die Fee Klingklang aus Haußmanns Peter-Pan-Inszenierung. Dann geht im Theater das Licht aus, das Herz schlägt langsamer, verstummt.
Mit dem Intendaten geht das Logo, das er vor fünf Jahren eingeführt hat. Auf seinen Arm tätowiert, begleitet es ihn, zunächst nach Berlin, wo er bei Frank Castorf an der Volksbühne inszenieren wird. In seiner Bochumer Zeit hat Leander Haußmann das rote Herz, jenes verbrauchte Zeichen aus dem Vokabular der Poesiealben, mit vielfältigen Affekten und Bedeutungen gesättigt. Selten lassen sich hund
en lassen sich hundert Inszenierungen, Provokationen und Ovationen so gut auf einem T-Shirt zusammenfassen. Ein großes rotes Herz auf der Brust von Ralf Dittrich - in der Rolle des Piraten Smy - reichte, um das Bochumer Premierenpublikum bei Haußmanns Abschiedsinszenierung von Peter Pan in Applaus ausbrechen zu lassen.Nicht zuletzt steht das Logo für Haußmann selbst, für einen illustren Intendanten, der statt eines Vorwortes nur "Viel Spaß" in das erste Programmheft schrieb, einen Flipper in sein Büro stellte, sich mit seinem Hausregisseur Jürgen Kruse prügelte, die Sonnenallee schuf, Kritiker als Weichlinge und die deutschen Theatermacher als Idioten beschimpfte. "Wenn wir was hatten, dann war es Profil", sagt Haußmann, als er im Schauspielhaus gerade seine Abschiedsfeier organisiert. "Wir waren Persönlichkeiten und wir hatten Charakter, und das hat sich hier stark in diese Stadt eingeprägt, ebenso wie unser Logo."Haußmann und seine Mitstreiter kreierten für das Schauspielhaus eine Corporate Identity, die mehr war als die Summe der Premieren. Ihr Stadttheater sollte nicht nach Stadttheater riechen, sondern nach Jugend und Rebellion. Haußmann wollte sein Theater wild: "Wir sind natürlich diejenigen, die früher eigentlich gerne beim Fußball mitgespielt hätten, nur hat sie keiner mitspielen lassen. Und jetzt im Theater wollen wir das nachholen. Wir wollen beim Fußball mitspielen, wir wollen jetzt auch die Rocker sein."Mit diesem Wunsch waren die Theaterleute nicht allein: Ihr Schauspielhaus hat ein neues, junges Publikum angezogen. Besonders Jürgen Kruse hat seine eigene Fangemeinde aufgebaut, die treu in die Premieren pilgerte, um den Kruse-Stil zu feiern: die Soundtracks aus siebziger-Jahre-Musik, die Angewohnheit, Schauspieler ausgiebig an Schlüsselwörtern würgen zu lassen oder ein einfaches Personalpronomen in eine ganze Deklinationstabelle aufzusplittern.Auch Schauspieler machten das Bochumer Theater kultfähig. Judith Rosmair etwa, die strahlend über die Bühnen rannte, dass ihre hüftlangen Haare flogen, die schrill schrie und mädchenhaft flötete. In Klassen Feind, Kruses letzter Inszenierung, kam sie als Lara Croft auf die Bühne, mit den unnatürlich hohen, langsamen Laufschritten, die Computerfiguren so an sich haben. Peter Jordan ließ in Klassen Feind wieder ein paar seiner gedankenverknotenden Wortkaskaden bei dümmlich leerem Gesicht ab. Alexander Scheer, durch Sonnenallee ohnehin auf dem Weg zum Popstar, schlakste bezaubernd über die Bühne.Diese schnelle, laute, witzige Seite des Schauspielhauses hat sich mit dem Herz und der Fußballsehnsucht des Intendanten zu einer effektiven Mischung verbunden. Wie euphorisierend sie wirken kann, haben die letzten Wochen der Spielzeit noch einmal deutlich gezeigt. Haußmanns Peter Pan war schnell ausverkauft. Bei den letzten Aufführungen von Repertoire-Stücken wurde das Ensemble mit Applaus überschüttet. Schauspieler und Zuschauer vergossen Tränen, und man erzählt sogar von BHs, die auf die Bühne geflogen seien. Den Bochumern ist der Wachwechsel in ihrem Theater zu Herzen gegangen. Das muss man Haußmann und seinem Ensemble erst einmal nachmachen.Ein paar der jungen Fans will sich auch der neue Intendant Matthias Hartmann sichern: Er hat Jürgen Kruse als Gastregisseur verpflichtet. Ansonsten scheint er es aber auf das Publikum abgesehen zu haben, das Haußmann vor den Kopf gestoßen hat. Hartmanns Bemerkung, er spüre in Bochum ein Verlangen nach gut gemachten Klassikerinszenierungen, zielt auf die Bildungsbürger, die ohne Weiteres darauf verzichten können, beim Fußballspielen mitzumachen. Sie sind in den letzten Jahren immer seltener ins Schauspielhaus gekommen.Haußmann wurde nicht müde zu betonen, dass er dieser Klientel keine Träne hinterweine. Aber er muss übersehen haben, dass dazu auch die meisten Kritiker gehören. Nur so ist seine Empörung über die vielen Verrisse zu erklären, die vor allem in den überregionalen Feuilletons zu lesen waren. An dieser Front ist Haußmann die Corporate Identity seines Theaters zum Verhängnis geworden. Das Image der unseriösen Spaßrebellen war so griffig, dass es die öffentliche Debatte über das Schauspielhaus weitgehend bestimmt hat. Abweichende Signale sind untergegangen. Die strengen, sperrigen Inszenierungen des Hausregisseurs Dimiter Gotscheff fielen zum Beispiel oft unter den Tisch, wenn es darum ging, ein Urteil über das Bochumer Theater zu fällen.Trotz der rebellischen Pose funktionierte das Schauspielhaus aber auch als solides Stadttheater. Das Ensemble hatte nicht nur ein paar Stars zu bieten, sondern spielte insgesamt auf hohem Niveau. Die Inszenierungen zeigten Spuren gründlicher Arbeit, selbst wenn sie anarchische Atmosphäre produzierten. Haußmann hat unspektakuläre Aufgaben an der Basis übernommen: Er hat Bühnentechnik erneuern lassen und Kindermärchen ins Programm genommen, mit Schauspielschülern gearbeitet und junge Regisseure inszenieren lassen - unter anderen Christina Paulhofer. In den Spielplänen war der Kanon gut vertreten: Goethe, Büchner und ganz viel Shakespeare. Und sogar kreuzbrave Produktionen hat die Ära Haußmann hervorgebracht. Seine eigenen Umsetzungen von Bonds Verbrechen des 21. Jahrhunderts und Ibsens John Gabriel Borkmann waren penibel texttreu und etwas zäh an den Rändern. Keine Spur von Party.Leander Haußmann hat es genossen, nicht nur zu funktionieren, sondern auch zu repräsentieren. Er war gerne der Ritter des roten Herzens. Aber es regt es ihn auf, wenn seine Arbeit auf ihre gelungene Präsentation reduziert wird. Hartmanns Bemerkung, das Herz gehöre jetzt wieder auf die Bühne und nicht nur auf die Fahne, hat ihn mächtig gekränkt.Mit Recht. Seinem Peter Pan zum Beispiel kann man zwar Einiges vorwerfen. Etwa dass er zusammengestückelt ist, dass der Handlungsfaden manchmal nur notdürftig geknotet ist. Aber herzlos ist die Inszenierung nicht. Schon die Fee Klingklang ist für sich genommen eine berührende Erscheinung. Patricia Toffolutti hat die Schauspielerin Traute Hoess mit einem weißen Tütü ausgestattet, in dessen Schichten Lämpchen verborgen sind. Die Fee leuchtet so unschuldig, brüstet sich so naiv mit ihren tapsigen Ballettschritten und schmollt so süß, dass man ihre Gemeinheiten verzeihen muss. Man kann ihr die Eifersucht nicht übelnehmen, mit der sie gegen Wendy (Steffi Kühnert) intrigiert, als ihr Peter Pan (Annika Kuhl), ihr Menschenkind das Mädchen mit ins märchenhafte Neverland nimmt.Peter Pan handelt vom Loslassen. In der Bochumer Inszenierung erreicht das Abschiednehmen einen Höhepunkt mit dem Tod von Kapitän Haken, Peter Pans Gegenspieler im Neverland. Endgültig besiegt, singt Haken (Margit Carstensen) eine der schwermütigen Balladen, die die Band Element of Crime für die Inszenierung geschrieben hat: "Jetzt ist der Unsinn bald vorbei, das war auch allerhöchste Zeit." Das Publikum erfreut sich an Haußmanns Selbstironie, und Haken steigt langsam zu einem riesigen Krokodilskopf herab. Während er sich in dessen Maul bettet, singen die übrigen Schauspieler viele Male Hakens letzte Worte an seinen Widersacher: "Ich hab' dich immer nur geliebt." Aber niemand hat den Piraten Haken geliebt. Und auch die Liebe zwischen Wendy und Peter bleibt unmöglich, weil er Frauen nur als Mütter schätzt. Peter Pan bleibt allein zurück, in den Kleidern des Piraten, und schlägt sich sogar eine Hand ab, um dem bösen alten Mann noch mehr zu gleichen.Es ist zum Verzweifeln. Von weitem sieht das Ziel so einfach aus: die Liebe, ein großes rotes Herz, aber je näher man kommt, desto größer werden die Widerstände. Einen "Zyklus von unerfüllter Liebe" hat Haußmann seine Bochumer Arbeit einmal genannt.
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