Überlebensprinzip communitas

Naturdebatte Mensch und Umwelt sind Gegner in einem ungleichen Kampf, schrieb Christoph Leusch vergangene Woche. Unser Autor sieht dagegen keinen Widerspruch zwischen Mensch und Natur

Die biologische Evolution auf der Erde währte bereits rund 3.700 Millionen Jahre und hatte einige gigantische Katastrophen überstanden, als ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde. Schon früher hatten einige Arten ihren evolutionären Vorteil aus der Fähigkeit zur Gemeinschaftsbildung (Insektenstaaten, Rudel) gezogen, aber immer waren die „sozialen Aufgaben“ in so einer Gruppe festgelegt: Wer Arbeitsbiene war und wer Königin – daran war nicht zu rütteln, das war hardwareseitig fixiert. Nun wagte die Natur ein neues Modell: Die Gattung homo wurde mit einem größeren Gehirn ausgestattet und damit in die Lage versetzt, die Software für die eigene Gruppenbildung selbst zu programmieren. Der Mensch war für sich allein ein schwacher, wehrloser Allesfresser, der nur einen Vorteil hatte: Er war fähig zum freiwilligen Zusammenschluss und intelligent genug, seinen Tod vorauszusehen.

Seitdem hat homo sapiens eine Vielzahl von zivilisatorischen Kon­strukten durchprobiert. Die Fähigkeit zum Gemeinschaftskonsens hat eine hohe Anpassungsleistung an die jeweiligen – oft harten und eigentlich unwirtlichen – Bedingungen ermöglicht. Allerdings war homo im Laufe seiner Geschichte immer wieder gefährdet, sehr verletzbar, manchmal am Rande des Abgrunds und keineswegs das Wesen, dem die Erde untertan war.

Über hunderttausend Jahre dümpelte die Größe der Weltbevölkerung unterhalb von 500 Millionen Individuen. Erst im 18. Jahrhundert unserer Zeitrechnung begann eine grandiose Expansion der Popula­tion. Man kann sagen, dass sich der Mensch als biologische Art erst seit 200 Jahren so weit durchgesetzt hat, dass er nur noch durch weltweite Katastrophen etwa von dem Ausmaß eines Kometenaufpralls bedroht ist. Grund dafür ist in erster Linie die Industria­lisierung der Landwirtschaft, die ohne die Leistungen der Wissenschaft, der Technik, der Forschung allgemein nicht denkbar gewesen wäre. Homo war also ein voller Erfolg, die Natur hatte wieder einmal einen Coup gelandet.

Künstlichkeit als Existenzfrage

„Bedenkenswert ist, dass der Naturschutz in Europa ein Ausdruck extremer Künst­lichkeit und Kunstfertigkeit ist. [...] Dort, wo derzeit das Schicksal der Menschheit auf dem Spiel steht, wäre aber eine andere Verhaltensweise notwendig, nämlich, sich einem Eingriff bewusst zu verweigern!“ (C. Leusch). Frage: Wo steht ernsthaft das Schicksal der Menschheit auf dem Spiel? Das Kokettieren mit der Apokalypse war ja von jeher ein stilistisches Mittel der Warnung, aber in den heutigen Zeiten sollte es doch wenigstens den Anschein von Wahrscheinlichkeit haben, wenn es überzeugen soll. Die Balkonpflanze als traurigste Form des Naturersatzes, der Vor- und Schrebergarten, das Haus auf dem Land und die Renaturierung von Flusslandschaften sind nur Abstufungen einer Künstlichkeit, die ihren Kern in der Übereinkunft hat, die wir alle hier getroffen haben. Manches davon ist trost- und hilflos – aber nicht das Ende der Menschheit. Im Gegenteil: Die meisten von uns würden gar nicht existieren, wenn wir uns nicht dieser Künstlichkeit verschrieben hätten.

Leuschs anschließende Frage „Wie kann das umgesetzt werden?“ bleibt leider so stehen – ohne die Andeutung einer Antwort. Wie könnte denn solch ein eingriffsloser Naturzustand in unseren Lebensräumen aussehen? Eingriffslos hieße ja auf ­jeden Fall auch grenzenlos. Welche Konsequenzen hätte das für unsere Gesellschaft? Ist das mehr als ein romantischer Traum? Ist es eine menschenverachtende Fantasie? Wo ist der Unterschied zu der Parole „Zurück zur Natur“? Ab hier wird es spannend.

Christoph Leusch macht sich lustig über die „wachsende An­zahl Menschen, Künstler, Wissenschaftler, die sich die Natur in einer Form der ästhe­tischen und synthetischen Reduktion nicht nur vorstellen können, sondern diese sogar schön und erstrebenswert finden. Geord­nete Fluren, asphaltierte, geschotterte und gekieste Wanderwege, Bäume in Reih’ und Glied, klare und einfache Strukturen gefal­len vielen Menschen, auch ohne allzu gro­ßes Grübeln und Nachdenken, während ihnen andererseits Wildnis als ,Gestrüpp‘ erscheint.“ Hier wird eine ideologische Stereotype konstruiert und eine Überheblichkeit demonstriert, die völlig absieht von den Lebensumständen der Menschen. Es ist nur schwer vorstellbar, dass Herr Leusch wirklich Gefallen an einem Leben in einer eingriffsfreien Natur fände, er würde sich schon nach dem ersten Gewitter zitternd eine Hütte bauen, dafür einen Baum fällen – und sich vorher die Kettensäge in einem Baumarkt besorgen.

Angepasste Gruppensoftware

Aber auch Christoph Leusch ist mit seinen etwas hoffnungslosen, zivilisationskritischen Anmerkungen Teil eines Verständigungsprozesses, der weltweit in und unter den Communities abläuft. Die Implikationen der neuen Entwicklung werden irritiert zur Kenntnis genommen. Bevölkerungsexplosion – wie soll das weitergehen? Gigantische Städte – wie kann man darin leben? Begriffe wie Biosphäre, Ökologie tauchen im gesellschaftlichen Diskurs auf – alles innerhalb der vergangenen 250 Jahre. Auf allen Ebenen findet die Nachjustierung der Gruppen-Software statt: Warnungen, Hoffnungen, Ideologisierung, neue Forschungen, Öko-Bewegungen, Regierungswechsel, Kämpfe, Kriege, Konzeptdebatten, Weltkonferenzen – und Blogs auf der Freitag-Website zum Thema.

Bei all dem geht es um die Lebensumstände des Menschen – aber nicht um die Natur. Der Mensch zeigt sich wieder einmal erstaunlich flexibel und anpassungsfähig. Er nimmt in Kauf, in großen Städten zu leben, richtet es sich da sogar behaglich ein – und wird keineswegs immer kränker, wie Rousseau noch befürchtete. Statt Lagerfeuer gibt’s den Fernseher und statt Großfamilie den Therapeuten. Logischerweise entstehen eine Menge neuer Probleme, aber jede Form der zivilisatorischen Übereinkunft produziert solche und muss einen Umgang mit ihnen finden. Wenn ihr das nicht gelingt, zerbricht sie daran.

Der Mensch ist sicherlich in der Lage, gewisse Grundlagen seiner Existenz anzugreifen. Dass er sie völlig zerstören kann, ist eher unwahrscheinlich. Er ist ja nicht einmal dazu fähig, Zustände herbeizuführen, die in der Geschichte unseres Planeten die meiste Zeit ganz natürlich existiert haben. Aber er kann als Gesellschaft, als communitas, auf neue Herausforderungen reagieren – und die entwickeln sich nach einer Ausreizung natürlicher Ressourcen. Aber statt einen alten Zustand wiederherzustellen, aus dem er sich mühsam befreit hat, kann die Lösung nur darin bestehen, seine Lebensumstände noch viel besser kennenzulernen, zu erforschen und zu durchdringen. Hier liegt seine Perspektive als biologische Art, als Naturprodukt. Sollte er wieder zurückfallen in einen Status wie vor 500 Jahren und davor, wäre die Spezies homo in der Tat viel mehr gefährdet als heute. Die Anzahl der Arten, die im Prozess der Evolution untergegangen sind, ist weitaus größer als die der heute lebenden.

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