Drei Uhr dreißig ist es soweit. Auf dem Fernsehschirm gleiten erste Lichtkegel über den Nachthimmel von Bagdad. Wenig später erklärt Präsident Bush der Welt, dass der Krieg nun begonnen habe. Monatelang ist das Unheil heraufgezogen, nun lässt es sich nicht mehr aufhalten.
»Es war wie ein Schlag ins Gesicht, als ich die ersten Einschläge der Raketen sah.« Es ist 13 Uhr 40 an diesem 20. März: Jule (14) sitzt auf der hölzernen Ladefläche eines zum Lautsprecherwagen umfunktionierten Kleintransporters vor dem Brandenburger Tor. Die Kundgebung geht gerade zu Ende. Jule ist müde, traurig und zufrieden. Müde, weil sie die ganze letzte Nacht wach geblieben ist, um zu sehen, ob dem Ende des Ultimatums der Tag X folgt. Traurig, weil es so war. Und zufrieden wegen der 70.000 Berliner Schüler, die dem Aufruf ihrer SGK gefolgt sind. SGK steht für SchülerInnen gegen den Krieg. Ihnen ist diese Demonstration zu verdanken, sie haben die Kundgebung bei der Polizei angemeldet, Ordner eingeteilt, einen Lautsprecherwagen gemietet, Strategien besprochen, Handzettel gedruckt, eMails verschickt, Schulsprecher in ganz Berlin einbezogen.
Unerlaubte Entfernung
Gegen 12.00 Uhr ist der Alexanderplatz voller Menschen. Und noch immer strömen Schüler aus U-Bahn- und S-Bahnschächten. Die Dächer der Imbiss-Pavillons sind ebenso besetzt wie Brüstung und Balkon des Kaufhauses. Fahnen der Demonstranten gegen die Lufthoheit der Kaufhof-Banner. Mehr als nur ein Streicheln gegen den Strich, nicht weniger als ein Hauch von Anarchie. Entgegen der zugebilligten Marschroute will die Mehrheit über die Straße Unter den Linden ziehen. Chaos auf der großen Straße. Die SGK hatte mit dieser Beteiligung nicht gerechnet, aber vielleicht gehofft. Auf jeden Fall fehlen Ordner, und die Polizei ist hilflos. Autos werden im Zug stillgelegt, Pfiffe, Zurufe, unentwegtes Laufen. Hier und da winkt ein Lächeln durch die Scheiben. Aber man weiß es ja: Es ist nichts, Beobachter zu sein. Was sieht der Beobachter schon? Es herrscht friedlicher Ausnahmezustand. Und dennoch ist die Spannung unter den Schülern fühlbar, kein Event, bei dem man einfach mitspaziert.
Roy, Melanie und Alex sind gegen den Willen ihrer Direktorin aus der Realschule in Erkner dabei. Unerlaubte Entfernung am ersten Tag des Krieges. Roy (14) mit einem tief ins Gesicht gezogenen Basecape erzählt von einer Frau, die er im S-Bahnabteil getroffen hat. Sie brach in Tränen aus, als sie hörte, dass Roy mit seinen Freunden zu einer Friedensdemonstration in die Stadt unterwegs sei. Die Mehrheit allerdings ist mit der Genehmigung oder Duldung ihrer Direktoren unterwegs, die Schulen aus Schöneberg sind sogar zwei Stunden marschiert, bevor sie am Alexanderplatz eintreffen.
»Wenn wir schon nichts dagegen tun können, wollen wir wenigstens ein Zeichen setzen«, sagen viele. George W. Bush ist als ölsaugender Vampir oder Mörder der Völker im Zug dabei.
Die Gruppe der SchülerInnen gegen den Krieg entstand kurz nach dem 11. September 2001, als der Afghanistankrieg bevorstand. Wer mitmachte, wollte etwas gegen die Ohnmacht tun, gegen das Gefühl, einer alles überrollenden Kriegsmaschine ausgesetzt zu werden. Seitdem traf sich die Runde von etwa 20 Schülern jeden Freitag in einem kleinen Raum der Stiftung Nord-Süd-Brücken nahe der Greifswalder Straße zwischen Getränkekästen und polizeilicher Beobachtung. Immer wieder hatten sie Themenabende an ihren Schulen geplant, doch zumeist begegneten ihnen Desinteresse oder Ignoranz oder sie wurden gar nicht erst wahrgenommen.
Die Wut im Bauch
Vor drei Wochen, erzählt Jule, da waren dem Aufruf der SGK zur Demonstration gegen den angekündigten Krieg nur 100 Schüler gefolgt, doch entmutigt hat sie das nicht. Als im Oktober 2001 der Afghanistankrieg begann, waren plötzlich doppelt so viel Schüler zum Freitagstreff erschienen. Als dieser Krieg aus den Medien zu verschwinden begann, waren die SGK-Leute wieder unter sich.
Um so größer ist die Freude jetzt, an diesem Tag. »Das haben wir alles allein organisiert«, staunt Jule. Und sie blickt ein wenig stolz auf die vielen Demonstranten, die dem Lautsprecherwagen folgen. Allerdings weiß sie auch, dass die wenigsten Schüler ihr politisches Engagement teilen. Es braucht die Wucht der Bilder, um sie auf die Straße zu bringen. MTV, der Musiksender, der normalerweise so politisch ist wie ein Kindercartoon, lud erst kürzlich zu einer Diskussionsrunde mit Tony Blair ein. Kinder, die gerade noch Tränen für den gescheiterten Superstar Daniel vergossen, halten nun Transparente in die Höhe »No blood for oil!«.
Bezeichnenderweise wissen die meisten Schüler nicht, wer die Demonstration veranstaltet und schon lange über einen Schülerstreik am Tag X nachgedacht hat - sie haben erst am Morgen von den Schulsprechern davon erfahren und sich spontan entschieden, in diesem Augenblick die Schule hinter sich zu lassen.
13:30 Uhr: Dichtes Gedränge am Brandenburger Tor, Jule spricht auf einer improvisierten Kundgebung, ihr Megafon ist einfach zu leise. Aber das ist nicht wichtig, die Bilder sind im Kopf und die Wut im Bauch. Dann Tracy Chapmans Talking About A Revolution, ein Ruck geht durch die Menge, ein vielstimmiger Chor begleitet die Musik, jetzt könnte ein Konzert beginnen, und langsam gehen alle auseinander. Die Letzten geben den Blick frei auf die Wagen der Fernsehanstalten, die nun allein den Straßenrand bevölkern. Der Protest der jungen Berliner hat es bis in die Medien geschafft, gleich neben dem Platzhalter Krieg.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.