Kaukasus Das armenische Schuscha ist ein mythischer Ort in der Region Bergkarabach und seit Wochen heftigen Angriffen der aserbaidschanischen Streitkräfte ausgesetzt
Die durch Raketenbeschuss zerstörte Kathedrale von Schuscha
Foto: imago images/Agencia EFE
Wir suchten Schutz in der Kirche. Wir dachten, dass nicht einmal Aserbaidschan eine Kirche bombardieren würde. Aber sie taten es.“ In Aljona Markarjans Stimme schwingt noch immer ungläubiges Entsetzen mit, als die 38-Jährige sich daran erinnert, wie am 8. Oktober zwei Raketen in die historische Ghasantschezoz-Kathedrale von Schuschi, auch bekannt als Kathedrale Christi des Heiligen Retters, einschlugen.
Es handelt sich um ein armenisches Gotteshaus aus dem 19. Jahrhundert in der Region Bergkarabach, die zwischen 1868 und 1887 durch den Architekt Simon Ter-Hakobyan mit einer Fassade aus weißem Kalkstein erbaut wurde. Aljona Markarjan sitzt mit zwei kleinen Kindern und dem alten Vater in ihrer Wohnung, die an einer Straßen in Rufweite der Kirche liegt. Die zwei
alten Vater in ihrer Wohnung, die an einer Straßen in Rufweite der Kirche liegt. Die zweite Rakete sei genau an der gleichen Stelle eingeschlagen wie die erste. „Es gibt an diesem Ort ein Team von Rettungskräften, die uns gerade aus dem Schutzraum holten, als das zweite Geschoss traf“, erinnert sie sich. „Drei russische Journalisten hielten sich zu diesem Zeitpunkt dort Kirche und wurden verletzt. Es musste ihnen dringend erste Hilfe geleistet werden.“Schwerster VerlustDer Ort Schuschi, den die Aserbaidschaner Schuscha nennen, liegt auf einem Hochplateau, von dem aus Bergkarabachs Hauptstadt Stepanakert überblickt werden kann. Obwohl die Kleinstadt – sie zählt etwas mehr als 4.000 Einwohner – bis auf ihre erhöhte Lage keinen wesentlichen strategischen Wert hat, gerät sie seit Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan immer wieder ins Visier. Wenn geschossen wurde, dann fast ausschließlich auf zivile Ziele. Die aserbaidschanische Offensive gegen Bergkarabach macht in dieser Hinsicht nur allzu oft keine Unterschiede. „Ohne die Befreiung Schuschas ist unsere Mission nur halb vollendet“, hörte man von Staatschef Ilham Alijew in Baku. Weshalb wird der Kleinstadt eine solche Bedeutung zuerkannt?Vor etwas mehr als einem Jahrhundert war Schuschi das kosmopolitische Zentrum der Region Karabach. Besonders wegen seiner renommierten Komponisten galt sie als „Konservatorium des Kaukasus“. Laut einer Volkszählung durch die Administration des russischen Zaren lebten 1916 etwa 43.000 Menschen in Schuschi, etwas mehr als die Hälfte davon Armenier. Es gab neben Seiden- und Baumwollspinnereien eine russisch-orthodoxe und fünf armenisch-gregorianische Kirchen, dazu zwei schiitische Moscheen, Sehnsuchtsorte der aserbaidschanischen Minderheit .Damals erlebte die Stadt eine Blütezeit. Doch als Zar Nikolaus II. im Februar 1917 abdanken musste, war es damit vorbei. Im Südkaukasus kam es zum Krieg zwischen der kurzlebigen Demokratischen Republik Armenien und der Demokratischen Republik Aserbaidschan. In Schuschi führte der Konflikt 1920 zu einem Pogrom in den armenischen Vierteln, aus denen vertrieben wurde, wer das Massaker überlebte. Von seiner Bevölkerungszahl her stark dezimiert, erlebt Schuschi die Sowjetzeit als Stadt mit muslimischer Mehrheit. Als dann 1991 wegen des Streits um Bergkarabach erneut ein Krieg ausbrach, diente Schuschi Aserbaidschan als wichtiger Stützpunkt, freilich nur bis 1992, als armenische Streitkräfte den Ort eroberten. Aserbaidschan empfand diesen Verlust als den schwersten und schrecklichsten dieses Waffengangs. Der Fall von Schuschi beendete die kurze Amtszeit des Präsidenten Yagub Mammadow, der sich im Parlament von Baku eines Sturms der Entrüstung erwehren musste.Legendärer CoupDie mythische Aura der Stadt kam für Aserbaidschan durch den Verlust nachdrücklich zu Bewusstsein. „Schuschi oder Schuscha ist für einen Aserbaidschaner so sakral wie Sankt Petersburg für einen Russen“, erklärt Nazrin Gadimowa-Akbulut, Altertumsforscherin am Zentrum für internationale und europäische Studien in Istanbul. „Sie war die kulturelle Heimstatt hunderter aserbaidschanischer Musiker, Künstler, Dichter und Intellektueller. Vieles, was unzertrennlich mit der aserbaidschanischen Kultur und Identität verbunden sind, hat seinen Ursprung in dieser Gegend von Bergkarabach.“ Diese Zuschreibung geht unter anderem auf Mugham zurück, eine traditionelle Form aserbaidschanischen Folkmusik, aber auch auf Persönlichkeiten wie den Komponisten und Theaterautor Uzejir Hajibejow. „Die Intellektuellen in Schuscha leisteten einen großen Beitrag zum aserbaidschanischen Revival im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert“, meint Gadimowa-Akbulut.Dass Schuschi von drei Seiten her durch hohe Klippen geschützt und dadurch fast uneinnehmbar ist, erhob die Eroberung der Stadt durch armenische Verbände vor 28 Jahren zum legendären Coup. Der pensionierte Soldat Armen erinnert sich gut daran. „Die Männer von Arkady Tadewosjan, Kommandeur der Operation, erklommen die Felswände, während wir anderen von verschiedenen Seiten aus angriffen“, erzählt der 57jährige. Das sei für ihn „der krönende Moment“ seines Lebens gewesen.Terrorist Bassajew Ein weitere Legende in Verbindung mit diesem Ort rankt sich um den berüchtigten tschetschenischen Kommandeur, islamistischen Terroristen und Rebellenführer Schamil Bassajew (1965-2006), der 2004 für Geiselnahme von über tausend Menschen an einer Schule in der nordossetischen Stadt Beslan verantwortlich war. Bei der weitgehend missglückten Befreiung der Geiseln durch russische Sicherheitskräfte kamen 331 Menschen ums Leben, 180 davon Schüler. Bassajew und seine tschetschenische Brigade gehörten zu den Gruppen von externen Kombattanten, die im ersten Kaukasus-Krieg auf aserbaidschanischer Seite kämpften. Das Operationsgebiet Bassajews lag in Schuschi und Umgebung.Eines Morgens, so wird erzählt, sei Bassajew aufgewacht und habe erkannt, dass armenische Soldaten nachts über die Felsen geklettert und in die Stadt eingedrungen waren. Zum Rückzug gezwungen, erklärte er, das sei für ihn das Ende in Bergkarabach, denn „wenn Aserbaidschaner eine Stellung wie diese verlieren, haben sie keine Chance.“ Ob diese Geschichte wahr ist, lässt sich nicht endgültig klären. Tatsächlich zogen sich Bassajew und seine Männer kurz nach dem Fall Schuschis aus dem Konflikt zurück.Seit den frühen 1990er Jahren ist die Stadt nur noch ein Schatten ihrer selbst, der Ruhm von einst verschollen, was nichts daran ändert, dass der Ort für armenische Behörden wie die Bevölkerung ein symbolträchtiges Refugium ist. Im Juli erst fand in Schuschi die Inauguration von Arajik Harutjunjan statt, des gewählten Präsidenten der international nicht anerkannten Republik Arzach statt, wie sich die Region Bergkarabach selbst nennt. Und am 19. September, nur eine Woche vor dem Ausbruch der neuerlichenKampfhandlungen, kündigte Harutjunjans Regierung an, das Parlament von Arzach nach Schuschi verlegen zu wollen.Daraufhin drohte in Aserbaidschan Präsident Alijew noch am gleichen Tag empört: „Das ist eine offene Beleidigung! Glauben Sie etwa, dass wir uns das gefallen lassen?“ Wie heute bekannt ist, waren die Vorbereitungen für einen Schlagabtausch zu diesem Zeitpunkt bereits im Gange.Der aserbaidschanischen Gesellschaft musste Alijew diese Beurteilung der Lage nicht aufzwingen. Der Slogan „Yolumz Susayadir“ (Auf nach Schuscha!) war unter den Militärs schon immer ein verbreiteter Refrain für die ersehnte Wiedereroberung der Stadt – in diesem Krieg ist er allgegenwärtig.Möglicher SonderstatusDie am wenigsten verhandelbare der aserbaidschanischen Forderungen ist die nach Rückgabe der „sieben besetzten Distrikte“ um das Kerngebiet von Karabach herum (entsprechend der früheren autonomen Region Bergkarabach). Aber es scheint offensichtlich, dass auch ein Sonderstatus für Schuschi Teil einer möglichen Einigung sein müsste. Denn die aserbaidschanische Gesellschaft „betrachtet die Befreiung des Ortes als wichtiges Ziel und größten künftigen Sieg in diesem Krieg“, so Gadimowa-Akbulut.
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