Schönheit rettet die Welt

Akademisten, Neoakademisten und andere Kleiner Lehrgang der russischen Kunst der letzten Jahre

Bis zur breiten Öffentlichkeit ist es vielleicht noch nicht durchgedrungen, aber: Wir sind mittendrin im Jahr der deutsch-russischen Kulturbegegnungen. In einem gewissen Sinne stellt das groß angelegte Unternehmen - mit zahlreichen übers Jahr und verschiedene Städte verteilten Ausstellungen, Gastspielen und Diskussionsforen - eine Zwischenbilanz jenes gegenseitigen Wiederentdeckens dar, das vor mittlerweile über 15 Jahren mit der Perestrojka begonnen hatte.

Damals machten sich tausende Künstler aus der Sowjetunion auf den Weg, um lang zurückgehaltene Energien loszuwerden und endlich die Aufmerksamkeit der Welt zu erobern. Einigen gelang es tatsächlich, in den Kosmos der Weltprominenz aufgenommen zu werden, ihr leuchtendes Vorbild verführte immer neue Künstler aus allen Teilen der ehemaligen Sowjetunion dazu, ihr Glück im Westen zu suchen. Und der westliche Kunstmarkt nahm jede Geste, die den Rahmen des Sozialistischen Realismus sprengte, dankbar auf.

Der Hype dauerte jedoch nicht lange, die Perestrojka-Mode war schnell vorbei und die postsowjetische Kunst im Weltalltag des bunten und unübersichtlichen Nebeneinanders angekommen.

Zuhause, in Russland und den anderen früheren "Teilrepubliken", ist die beinahe aus der Bahn geratene Kunstszene inzwischen wieder zur Ruhe gekommen. Inspiriert von den Wanderjahren im Westen entwickelt sie sich in verschiedene Richtungen fort. Grob lassen sich jedoch die Konturen von zwei grundsätzlichen Strömungen umreißen: Tradition und Sensation.

Von der Ikonen-Malerei zum sozialistischen Realismus

Konzeptionell unterfütterte Sensations- oder Simulationskunst braucht man heute nicht zu verteidigen. Sie hat sich durchgesetzt, ist überall präsent und hat damit ihre Rebellions-Aura längst verloren. Wie sonst vielleicht nirgendwo mehr, lebt besonders in Russland indes die traditionelle, akademische Malerei weiter. Sie existiert abseits der Wahrnehmung des internationalen Kunstbetriebs. Und gerade diese Positionierung verleiht ihr - zumindest in den Augen ihrer Macher und deren Anhänger - eine frische Aura. Gegenüber der zum Standard gewordenen Provokation des immer Neuen kommt ihr auf einmal etwas Widerständiges zu. Schon deswegen lohnt es sich vielleicht, einen Blick in die Ausstellung Moskauer Tage in Berlin im Palais am Festungsgraben zu werfen. Die Bilder stammen von prominenten Meistern des soliden akademischen Handwerks, es überwiegen traditionelle Formen und ebensolche Themen. Sergej Andrijaka, ein weltberühmter Aquarellist "setzt die Tradition der russischen Klassiker fort und entwickelt sie weiter. Die im Stil des Realismus gemalten Bilder Wassilij Nesterenkos behandeln das Thema des idealen Russland mit einem gewissen Pathos", liest man im Katalog. Die Formulierungen mögen den Besucher zuerst durch Langeweile abschrecken, doch halten wir einen Moment beim Begriff Realismus ein. Ist Realismus die eindimensionale Wiedergabe der Wirklichkeit? Oder verrät er die verborgenen Träume selbiger? Wie steht er überhaupt für und zur Realität?

Seine letzte Blütephase erlebte der russische Realismus in der Zeit des Sozialismus - "solide, traditionell, klassisch, realistisch" lautete das Dogma des heute als propagandistisch denunzierten künstlerischen Schaffens. Nichtsdestotrotz haben die unzähligen Leinwand-Quadratkilometer der sozialistischen Malerei die Wirklichkeit zum Paradies hoch stilisiert. (Von solchen Bildern waren wir, die sowjetischen Schüler, umlagert, von den ersten Seiten der Lesefibel an tauchten sie uns in eine glückliche Welt - und mit diesen strahlenden Bildern fülle ich heute im Nachhinein die immer dünner werdenden Erinnerungen aus meiner realen Kindheit auf.)

Seit der Wende gehen die Reflexionen zum Phänomen des sozialistischen Realismus in verschiedene Richtungen. Die einen erklären ihn zum Kitsch und schneiden ihn damit aus der Kunstgeschichte heraus, beziehungsweise lassen ihn als Gegenstand der spöttischen Popart weiter leben. Versucht man jedoch, dem Phänomen einen Platz in der russischen Kunstgeschichte einzuräumen, kommt man zu erstaunlichen Ergebnissen. Wie zum Beispiel, dass im sozialistischen Realismus die Traditionen der sakralen Kunst fortleben.

In vielen wichtigen Punkten nämlich überschneidet sich das bolschewistische "Hofschaffen" mit der Ikonenmalerei. So zum Beispiel im Darstellungskanon: Ein Lenin im Pyjama ist genau so undenkbar innerhalb des sozialistischen Realismus wie ein laut lachender Jesus in der Ikonenmalerei. Mit einem Kind auf dem Schoß - bitte schön; aber bloß nicht mit der eigenen Ehefrau Hand in Hand. Denn Götter vermehren sich ja nicht wie Gemeinsterbliche. Ganz im Sinne der Ikonenmalerei ersetzen die Vorgaben der Propagandakunst das Reale durch das Imaginäre. Und so wie Ikonen ja nur von gesegneten Künstlern gemalt werden durften, wurden die prägenden Bilder der sozialistischen Kunst von "akademischen", also eingeweihten Künstlern geschaffen.

Die Kanonabtrünnigen schufen sich im sowjetischen Underground ihre parallele Kunstwelt, die sich dem offiziellen Trend widersetzte und nachträglich ein hohes Ansehen bekam: Das Unkonventionelle avancierte nach der Perestroika zum neuen Kanon. All das, was den Beigeschmack des "Offiziellen" oder gar "Traditionellen" trug, galt als abgeschrieben. (Ich erinnere mich noch gut an diese ersten Jahre der Perestrojka: In einem Moskauer Atelier amüsiert uns ein Freund mit Geschichten aus dem wilden Westen. Er hat gerade in nur einem Monat ein ganzes Jahreseinkommen als Porträtmaler in einem Kurort in Österreich verdient. Erst ganz zum Schluss, als nur noch die Betrunkensten geblieben waren, getraut er sich, uns einen Blick auf die im Atelier abgestellten Bilder werfen zu lassen. Es gehörte freilich seinen Eltern, die "verdiente Künstler der Sowjetunion" waren. Nur von heute aus bin ich im Stande zu sehen, wie viel Talent und Kraft in diesen damals opportunismusverdächtigen Bildern der "Alten" steckte. Es ist das Land auf jenen Bildern, als das ich mir meine Sowjetheimat im Nachhinein so gerne erträume.)

Akademisten und Neoakademisten

Inzwischen hat die Geschichte also eine neue Runde gedreht: vom "Unfug" der Moderne enttäuscht, verkündet heute eine bekannte Petersburger Künstlergruppe die Rückkehr zu den Idealen des Akademismus. Angestiftet wurde die Bewegung von Timur Novikov, der seine Wanderjahre in Deutschland, Finnland, Jugoslawien, Frankreich und USA verbrachte. Dann kehrte er zurück und gründete Anfang der Neunziger die Neue Akademie der Feinen Künste. Im Laufe der Jahre entwickelte er sich von einem Verkünder der Westkunst zum Patriarchen der einheimischen "Neoakademisten", die nunmehr auf klassizistische Schönheit setzen.

Ihre kreative Energie schöpfen die prominenten Hausbesetzer aus einheimischen Quellen: aus dem radikalen Kontrast zwischen dem aristokratischen architektonischen Antlitz der Stadt St. Petersburg und der Realität seiner heruntergekommenen Hinterhöfe und verwahrlosten Gemeinschaftswohnungen.

"Ein Künstler, der der traditionellen Malerei treu bleibt, soll sich nicht mehr vor den Kunstkritikern rechtfertigen müssen mit der Ausrede, das sei bloß ein Witz, Ironie, Simulation" - Timur Novikov spricht die feinen Künste frei, indem er die Gegenwart zu einer neuen Renaissance erklärt. In einem ihrer militanten Manifeste erläutern die Neoakademisten ihr Vorhaben folgendermaßen: "Und nun, am Ende des 20. Jahrhunderts, machen wir eine freudige und vielleicht auch überragende Entdeckung: Nach dem Jahrhundert der avantgardistischen Abstraktion ist es die traditionell schöne Kunst, die die Bourgoisie schockiert."

Willkürlich habe ich die Moskauer Akademisten mit den Petersburger Neoakademisten zusammengefügt. Mag sein, dass sich beide in dieser Nachbarschaft überhaupt nicht wohl fühlen. Im angekündigten Kampf gegen Destruktion, handwerklichen Dilettantismus und Kanon-Chaos befinden sind die beiden Rebellen der Moderne jedoch unter der selben Fahne: derjenigen der Schönheit, die, wie nach Dostojewski immer noch einige glauben wollen, die Welt rettet.

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