Wir sitzen hier und zählen Würstchen. Es ist kühl und windig. Eins, zwei, drei - brummt Schura vor sich hin und zupft an seinen Augenbrauen, konzentriert und angespannt, als säße er vor einem NASA-Monitor und nicht am Rande des Brunnens mitten auf dem Alex, dem Platz von Nichtstuern oder Durcheilenden. Schura hat eine Mission: Er muss ausrechnen, wie viele Würstchen ein Grillwalker pro Stunde verkauft. Diese mobilen Bratwurstverkäufer mit ihren dampfendem Bauchläden haben Schura zu einer hektischen Kampagne inspiriert.
Letzteres ist eigentlich nicht so furchtbar schwer. Seit 20 Jahren kreuzen sich gelegentlich unsere Wege, früher in Leningrad, nun in Berlin, und jedes Mal, wenn ich ihn treffe, ist er von einer neuen Geschäftsidee besessen. In diesem Feld ist die Vielfalt seiner Fantasien verblüffend, die Botschaft aber bleibt sich gleich: schnelles und bares Geld. Ein Motto, dem in Umbruchzeiten viele verfallen. Als wir uns vor 20 Jahren kennen lernten, schwärmte er von Flaschenetiketten, die er in einer staatlichen Druckerei schwarz anschaffen und dann an private Untergrund-Brennereien weiterverkaufen wollte. Der 600-prozentige Profit schien sicher, energisch verschaffte sich Schura 3.000 Dollar zu drakonischen Zinsen im kriminellen Milieu von Leningrad. Den Geldstapel schob er direkt seinem Geschäftspartner in die Hand, der verschwand mit einem leeren Leinensack in einem dunklen Loch in der Ziegelmauer jener Druckerei. Den Mann mit dem Sack, der auch der Erfinder des Projekts gewesen war, sah Schura nie wieder.
Vor einem Jahr begegnete ich Schura tief in den Urwäldern der Berliner Platte vor einem russischen Supermarkt. Er war etwas dicker geworden, ansonsten wird seine äußerliche Ähnlichkeit mit Bertolt Brecht mit der Zeit immer verblüffender. Schura hatte ein Mädchen im Arm, das rote Pumps und weiße Söckchen trug. Die beiden schienen einem sowjetischen Film aus den achtziger Jahren entsprungen. Das Geschäft, ein Quader aus Beton und Glas, lakonisch wie ein Aquarium, darum herum Babybirken mit klebrigen Blättchen und drei mollige Damen mit Schaschlik-Spießen in der Hand vor der Grilltheke - sie bildeten eine perfekte Kulisse.
- Smaragde, Saphire, Granat, alles, was das Herz begehrt, die Kanäle habe ich schon gefunden. Sichere Sache, dort kriegen wir die Smaragde fast umsonst, das garantiere ich, der Vertrieb hier ist auch gesichert. Komm mit!
- Wohin?
- Na, Thailand! Im Prinzip sind die Flugtickets das Teuerste an dem Projekt!
Dabei tippte Schura zwanghaft und abwesend auf seinem Handy herum. (Früher war es ein Taschenrechner, dann ein Pager.) Das Mädchen hing an seinem Arm und schaute ihn voller Entzücken und Vertrauen an. Als die magische Zahl 3.000 fiel, konnte ich meine Skepsis nicht verbergen:
- Die Leinensäcke, nicht vergessen, für die Smaragde und Diamanten!
Meine Zweifel waren nicht unbegründet: Als Vorspiel zu dem riesigen Geschäft wollten die potenziellen Lieferanten ein Dutzend Proben nach Berlin schicken. Pro Umschlag überwies Schura 49 Euro, in jedem befand sich ein echter Edelstein, dessen Wert allerdings 50 Cent nicht überstieg. Der Weg nach Thailand war nun nicht mehr nötig, der juristische nicht möglich.
- 14 in 20 Minuten.
Starr und cool wie eine Kobraschlange verfolgt Schura die Manöver des Wurstmenschen, der sich neu positioniert. Dabei kann ich das prachtvolle Ausstattung eines Grillwalkers von hinten beobachten: ein rucksackähnlicher Brennstoffbehälter, aus dem eine fest installierte Stange mit Schirm und Fähnchen herausragt, flott wie ein Eichhörnchenschwanz. Diese fliegenden Händler sind zu einem Wahrzeichen des Alexanderplatzes geworden, so wie es einst in den Zwanzigern die mobilen Schnürsenkel-, Schlips- oder Zeitungshändler waren.
- Wozu zählst du denn die Würstchen? Schura winkt irritiert ab, vor dem dampfenden Bauchladen formt sich ein kleines Gedränge. 15, 16, 17.
Ich beschließe zu warten, schaue mich um und nehme mir vor, eine Runde über den Alexanderplatz zu drehen. Den kenne ich eigentlich nur vom Durcheilen.
Wozu auch hier verweilen? Es gibt fast keine Bänke, keine Bäume und keine Straßencafés. Wind gibt es massenhaft am Alex, an der Ecke von Tietz zieht es lausig, heißt es noch 1929 bei Alfred Döblin, der den Alexanderplatz in den Atlas der Weltliteratur hineinschrieb. Nicht Honecker ist also Schuld, dass es hier so ungemütlich ist, es liegt in der Natur des Ortes: Es gibt Wind, der pustet zwischen die Häuser rein und auf die Baugruben ... Frühmorgens kommen die Arbeiter angegondelt, von Reinickendorf, Neukölln, Weißensee. Auch damals wurde der Platz vor allem von Kleinbürgern frequentiert, von den Verlierern der Weimarer Demokratie.
Döblins windige Baugruben sind zur U-Bahn geworden, heute wird der Platz täglich von Hunderttausenden über- und unterquert. Für den Berliner Osten war er und blieb er der wichtigste Verkehrsknoten. Um ihn herum liegen die interessanten Stadtteile, die repräsentative Prachtstraße Unter den Linden, das schicke Scheunenviertel, der flotte Prenzlauer Berg, und auch triste, einst optimistische Plattenbausiedlungen. Ein Bindeglied für solch unterschiedliche, markante Welten, ist der Platz selbst öde: Riesige, kahle Flächen in Wüstenfarbton, deren architektonischen Reiz graue Würfel und Quader ausmachen. An der Stelle des einstigen Tietz thront das alles dominierende Kaufhaus, gestern der größte Konsumtempel der DDR, heute Kaufhof, das mit seinem Decknamen Galeria versucht, die Stimmung etwas zu veredeln. Am schnellsten packt man Kunden unter der Gürtellinie: Dessous und Lebensmitteln kann man nicht ausweichen. Das "Schlemmerparadies", in einem labyrinthischen Muster aufgebaut, wird seinem Namen gerecht: Kuwano, Guawe, Granadilla, Feichoa, Passionsfrucht, rote, schwarze und weiße Kartoffeln, und deren, ebenso per Jet eingeflogener Verwandter Maniok, eine tropische Nutzpflanze, Grundnahrung armer süd- und mittelamerikanischer Waldbewohner. Das Essen im "Schlemmerparadies" scheint seiner direkten Funktion entfremdet zu sein. Hier ist es Zerstreuung, Antidepressivum, Spielzeug.
"Genuss ist Beginn und Ende eines gesegneten Lebens". So, mit Inschriften in Menschengröße, wirbt das "Schlemmerparadies" für seine Lebensphilosophie. Die Passanten scheinen diesen edlen Banalitäten irgendwie doch nicht gewachsen. Die meisten, die hier verkehren, ziehen Fast-Food-Angebote vor, die sie, ohne den Kopf zu heben, verschlingen. In dem Bahnhof wird unglaublich viel gegessen. Und draußen lauern die Wurstmenschen. Jetzt gondelt ein akkurater Mann aus dem Bahnhof, einer von denen, die Elefantenhautfarben bevorzugen, sorgfältig gebügelt und bei jedem Wetter gut gekämmt, wohl einer der Frührentner, die durch die Wende aus dem Sattel gefallen sind. Als er an den Grillwalker herantritt, stellen sich gleich drei weitere Interessenten hinten an. Mit kleinen Schritten tritt der gebügelte Genießer beiseite, aus dem klaffenden Brötchen ragt keck eine dicke, lange Wurst. Als der Mann zubeißt, guckt er sich verstohlen um, wie ein Besucher an der Türschwelle eines billigen Sex-Ladens. Allein und öffentlich essen zu müssen - das ist die Buße für das schnelle Vergnügen.
Auf Döblins Alexanderplatz aß der Berliner bei dem Fast-Food-Pionier Aschinger billig, dazu Brötchen ohne Ende. Aschinger hat ein großes Cafe und Restaurant. Wer keinen Bauch hat, kann einen kriegen, wer einen hat, kann ihn beliebig vergrößern. An der Stelle, wo früher Aschinger war, ist heute Burger King, und sonst ist hier nichts ist von Döblins Alexanderplatz übriggeblieben. Nur die Stimmung.
Nun bin ich wieder bei Schura angekommen. Neben dem fliegenden Grillwalker wird ein Wurstverkäufer im Rollstuhl von seinem Team zum Einsatz bereit gemacht.
- Es gab Krach. Schura flüstert mir ins Ohr. Der Grillwalker hat ein Patent, und ein Russe hat ihn ausgetrickst und das Geschäft für Behinderte angepasst, die im Sitzen Würstchen verkaufen. Sie sind keine Grillwalker, sie laufen ja nicht, sind etwas anderes, und deshalb ist es kein Plagiat.
- Und es hat gekracht, ich aber habe mir was ganz Anderes überlegt. Siehst du? Es sind schon fast 30, habe ich mir gedacht! Schura jubelt und zählt weiter.
Nichts aber deutet auf versteckte Spannungen hin, die Gegner teilen sich das begehrte Revier zwischen Bahnhof und dem Brunnen der Völkerfreundschaft friedlich. Grillwalker neben Grillsittern, die Pelzmützentheke ist keine drei Schritte vom Tierschutzstand entfernt. "Was Augen hat, isst man nicht." Die Stunde schlägt bei Würstchen Nr. 32. Nun erfahre ich, dass Schura die Grillwalker auf russischen Boden verpflanzen will.
- Hier ist alles abgegrast, kann man nichts verdienen! Und die Mutter ist schon schwach, sitzt da allein in Petersburg, und jammert, wann ich wieder da bin. Ich kann jetzt drüben Geschäfte machen! Bald kehre ich dann als Oligarch zurück und kaufe Herta BSC!
Später saßen wir im leeren, kahlen Zille-Biergarten. Diesmal klang es tatsächlich nicht schlecht. Nach langen Kalkulationen stellten wir fest, dass sich auch im schlechtesten Fall die Investition von über 7.000 Euro pro Gerät in einer Sommersaison problemlos rentieren würde. Danach werden immer mehr mutige Grillwalker auf die Petersburger Straßen geschickt, und das Geld wird in den Leinensack nur so fließen. Wir lachten viel und verscheuchten die ohnehin rare, melancholische Kundschaft. Was wir da noch nicht wussten: Bald darauf wird Schura auf Probe zwei Grillapparate erwerben, sie mit großer Mühe in einen Eisenbahnwaggon zwängen, sich dazu setzen und davon träumen, wie sein Geschäft expandiert. Er wird dabei nicht allein sein und etwas betrunken, und hinter der Grenze, schon in Weißrussland, wird er aus dem Zug fallen und dabei den rechten Arm verlieren.
Eigentlich ist der Alexanderplatz das Revier des armen Franz Biberkopf, aber wenn ich jetzt den Platz betrete, denke ich an Schura, an unser letztes Treffen und staune über die Kraft von Döblins Roman, der dem wirklichen Leben seine dramatischen Geschichten ausborgt.
Und die Stimmung. Eine Handvoll Menschen um den Alex. Am Alexanderplatz reißen sie den Damm auf für die Untergrundbahn. Man geht auf Brettern. Die Elektrischen fahren über den Platz die Alexanderstraße herauf durch die Münzstraße zum Rosenthaler Tor. Rechts und links sind Straßen. In den Straßen steht Haus bei Haus. Die sind vom Keller bis zum Boden mit Menschen voll. Unten sind die Läden. Destillen, Restaurationen, Obst- und Gemüsehandel, Kolonialwaren und Feinkost, Fuhrgeschäft, Dekorationsmalerei, Anfertigung von Damenkonfektion, Mehl und Mühlenfabrikate, Autogarage, Feuersozietät. Wiedersehen auf dem Alex, Hundekälte. Nächstes Jahr, 1929, wirds noch kälter.
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