Balkan Black Box - unter diesem Titel wurde eine Woche lang in Berlin die unabhängige Kunst und Kultur aus Südosteuropa gefeiert, aus dem Balkan also. Was ist das eigentlich: "Balkan"? Im Alttürkischen bedeutete das Wort lediglich "große Gebirgskette", in unserem heutigen Sprachgebrauch steht es synonym für verworrene politische Verhältnisse. Im Wahrig wird erklärt: "Ein Land balkanisieren heißt in Kleinstaaten aufteilen, zersplittern."
Das Festival bot so gesehen die Gelegenheit, die Puzzleteile eines zersplitterten Landes wieder zusammenzulegen, anhand von Filmen, Musik und Kunst aus dem ehemaligen Jugoslawien.
Kaum jemand, professionelle Kartographen eingeschlossen, ist heute im Stande, die neuen Grenzverläufe auf dem Balkan zu definieren; eines steht jedoch fest: die neuen Grenzen auf dem Gebiet des alten Jugoslawien hinterlassen schmerzhafte Narben, denn sie sind in Kriegen entstanden. Vom Krieg und den Schmerzen der Nachkriegsverluste handelten denn auch die meisten Festivalfilme.
In The Letter (2001), einem Film über Bosnien, will ein zehnjähriger Junge seinem vom Krieg verstümmelten Freund eine Krücke organisieren. Er wendet sich mit einem Brief an die UN. Den Weg zur im Nachbarort gelegenen Post nutzt der Regisseur Denijal Hasanovic´, um eine tragische Bilanz der Bruderkriege zu präsentieren: prächtige, verminte Landschaften, verstümmelte Häuser, verkrüppelte Menschen - zu common places gewordene Ansichtskarten aus Bosnien. Den Freund schmerzt das Bein, das nicht mehr da ist. "Wie kann dir etwas weh tun, was du nicht mehr hast?", fragt der Junge immer wieder die Menschen, denen er auf seiner kleinen Reise begegnet. Die Bescheidenheit seiner Wünsche ist erschütternd; er träumt davon, dass der Beinlose eine Krücke bekäme, der verliebte junge Man auf seiner Vespa eine schicke Lederjacke, das kranke Pferd Penizillin, der hinterbliebene Alte ein bisschen Beistand in seiner Einsamkeit. So keimt aus hoffnungslosen Verlusten eine Hoffnung, die eben nicht nach Vergeltung ruft. Der Film ist ein herausragendes kleines Meisterwerk der Werbung für den Frieden, sprich für Normalität.
Am Ende des Films war im Saal allerdings auch Enttäuschung zu vernehmen: "Ich dachte eigentlich, dass so etwas wie Schwarze Katze kommt, etwas Lustiges, und dieser Film war soo traurig."
Im Gegensatz zu The Letter war der Saal bei Kusturicas Schwarze Katze, weißer Kater denn auch voll. Emir Kusturicas Kassenschlager versprechen Spaß und kommen den landläufigen Balkanklischees gern entgegen. Es ist schade, dass nur wenige im alten Jugoslawien gedrehte Filme gezeigt wurden, stammen doch die heutigen Filmemacher allesamt noch aus diesem Land, dessen Tradition auch ihre Filme entspringen.
So hat The Letter zum Beispiel sein Pendant in Kusturicas Frühwerk Papa ist auf Dienstreise, für das er 1985 die Goldene Palme in Cannes erhalten hat. Auch dort erzählt ein Junge aus Bosnien von seinem Alltag, seinen Eltern, seinen Verwandten, seiner Heimat in den fünfziger Jahren, einer Zeit, als Titoland sich daran machte, die Balkanfolklore zu tilgen. Und hier fängt eigentlich die Geschichte derer an, die heute in unserer Wahrnehmung zu festen Klischees erstarrt sind, die Geschichte der burleske-besessenen Helden Kusturicas oder eben der gewaltbesessenen Krieger. Woher kommen sie eigentlich?
Diese Frage führte die Regisseurin Andrea Staka nach New York, wo sie eine Schauspielerin, eine Malerin und drei Musikerinnen aus Ex-Jugoslawien besuchte. Aus diesen Begegnungen entstand der Film Yugodivas. Die Künstlerinnen sind vor dem Krieg ausgewandert, um die Welt zu erkunden, sich selbst auf die Probe zu stellen, und, eventuell, berühmt zu werden. Während sie New York erobern wollen, geht ihnen die Heimat verloren. "Juga" sagen sie zu dem Land ihrer Eltern und ihrer Kindheit, mit dem sie Geborgenheit, Wärme, Vertrauen, Liebe und viel Sonne verbinden - eine Art Familienvideo von Juga´s Küsten.
Die Zeit "der Schande und des Zusammenbruchs" ihrer Heimat haben sie im Exil erlebt. Wie es zu der Katastrophe kommen konnte, wissen sie genau so wenig wie ihre daheimgebliebenen Landsleute. Eine der Heldinnen glaubt: "Wenn die Kommunikation versagt, wird alles möglich. Wenn die Nachbarn miteinander nicht mehr sprechen können, kann man sie leicht davon überzeugen, dass der Andere für sie eine Bedrohung darstellt. Nur so war es möglich, die Menschen in den Krieg hineinzumanipulieren."
Die Vorwende-Generation in Osteuropa hatte genug von Kriegsfilmen, eine Folge der unzähligen Kino- und TV-Heldensagen über den Zweiten Weltkrieg. Der Spielfilm No Man´s Land wurde nach der Wende, 2001, gedreht und handelt vom bosnisch-serbischen Krieg. Auf den ersten Blick sind da dieselben vertrauten Männerwelten, Kriegskameradie, ein bisschen Schützengrabenhumor; No Man´s Land erscheint als konventioneller Kriegsfilm, und ist es dann doch nicht. Als magische Verzerrung, gar Provokation für die Generation der heute 40-Jährigen fällt beim zweiten Blick ins Auge, dass die Kämpfer in ihren altmodischen Schützengraben T-shirts mit Rolling-Stones-Emblem tragen und die Turnschuhe von Big Star. Die althergebrachten Uniformen der Faschisten und Rotarmisten haben den Blick von der Gewalt entfremdet - der Krieg war eben nicht "unserer". In No Man´s Land sind wir es, die im Schützengraben sitzen, die Kinder der Sechziger.
In der Reihe der Dokumentarfilme, in denen die jeweils Betroffenen für ihre Seite um Parteinahme werben, nimmt No Man´s Land eine besondere Stellung ein. Die Kriegsgeschichte im Schützengraben entwickelt sich zu einem Beziehungsdrama. Regisseur Danis Tanovic zwingt die Feinde, die übrigens die gleiche Sprache sprechen, zum Gespräch. Er gibt sich Mühe, Ansätze dafür zu suchen, wo Wut und Hass nachlassen könnten. Sei es auch rein visionär - denn am Ende bringen sich doch wieder alle gegenseitig um.
Das nach Krieg schmeckende Wort Balkan wird inzwischen aus der Sprache der Politik vertrieben. Als "Südosteuropa" bezeichnet man heute diese Region, wo die neuen Nationalstaaten das Schimpfwort Balkan nun dem jeweils nächsten östlichen Nachbarn in die Schuhe schieben. In Life in Fresh Air (2001) dokumentiert Regisseur Danko Volaric´ den Wahlkampf in einem kleinen Ort in Ostkroatien, wo Serben, einheimische und aus dem Kosovo geflohene Kroaten zum Zusammenleben gezwungen sind. Dem Außenstehenden fällt es schwer, die drei Konfliktparteien im Dorf überhaupt voneinander zu unterscheiden. Das ist nur möglich, wenn man ihren Reden folgt. Jede Seite thematisiert ihr Anderssein, die kluge Kamera jedoch führt vor Augen, dass sie trotz alledem in einer gemeinsamen Alltagskultur leben, sei das nun "Balkan" oder "Südosteuropa".
Wenn man die Domäne der Politik verlässt, geht das Wort Balkan allen leichter über die Lippen. "Balkanmusik" zum Beispiel, nicht zuletzt durch Kusturicas Filme in der Welt bekannt geworden, fehlte auch beim diesjährigen Black Box-Festival nicht. Sie ist im Grunde keinem der Balkanvölker zuzuordnen, am ehesten noch den Roma. Außer ihren musikalischen Leistungen ist die Romakultur dafür berühmt, dass sie keine kriegerische ist: In ihrer langen Geschichte sind die Roma ihren Gegnern immer aus dem Weg gegangen. Und dennoch haben sie fast am Stärksten unter den Kriegsfolgen zu leiden: die aus Jugoslawien vertriebenen Roma sind bis heute nirgendwo zu Hause. Ein prominent besetztes Podium diskutierte im Rahmen des Festivals über "Bleiberecht oder Ausreisepflicht" für Romas in Deutschland - ein Thema, das seit Jahren irgendwo hinten in den Zeitungen abgehandelt wird.
Zum Abschluss wurde ein alter jugoslawischer Kultfilm gezeigt, Wer singt denn da? von 1980. Ein Film mit einfacher Geschichte: ein Dutzend Menschen allerlei Klassen und Ethnien reisen im Bus nach Belgrad. Auf dem engen Raum spielen sich während der unruhigen Fahrt allerlei kleine Dramen ab. Als das Portmonee eines der Reisenden verschwindet, verdächtigt man automatisch die Roma-Kinder. Schließlich kommt der Bus in Belgrad an, wo er unter Beschuss deutscher Bomben gerät - es ist der 6. April 1941, Kriegsbeginn im Königreich Jugoslawien. Mit diesem Ereignis nimmt die Geschichte des Titolandes ihren Anfang, ihr Ende fand sie in ähnlichen dramatischen Umständen.
Der Film, der als "turbulente Komödie aufbricht und tragisch endet, beschreibt wie kein anderer manche Eigenarten des Homo Balkanicus", so stand es im Programmheft des Festivals. Präsentiert wurde der Film zusammen mit Schurkenfressen und Slawendisko und weiteren Sachen, die viel Spaß in Balkanwelten bereiteten.
Die "Black-Box-Methode" steht übrigens in der Kybernetik für ein Verfahren zum Erkennen noch unbekannter Systeme.
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