Rainer Werner Fassbinder

Kehrseite II Lieber Rainer Werner Fassbinder, ...

Lieber Rainer Werner Fassbinder,

damit Du es weißt: zwischen dem "Rainer Werner" und "Fassbinder" in der Anrede habe ich eine gedankliche Pause gelassen - wegen dem Respekt, ist klar, oder?

Bevor ich ans Eingemachte gehe an dieser Stelle vorab noch eine Warnung die da lautet: Heut gibt´s noch Tränen!

Ich bin sowas von verstört, bis in jede Pore VERSTÖRT, das glaubt mir keine Sau.

Ich fühle mich wie ein Schaf, das man von der grünen Wiese auf den Markt getrieben hat, und der Markt befindet sich auf dem Trafalgar Square, London.

Jetzt steht also dieses Schaf da und glotzt reichlich dämlich aus der Wäsche. Steht zwischen den Touristen, denen die Wahl zwischen T-Shirts mit dem Aufdruck: MY SISTER WENT TO LONDON AND ALL SHE GOT ME WAS THIS FUCKING T-SHIRT und MY FATHER WENT TO LONDON AND ALL HE GOT ME ... und MY BROTHER WENT TO LONDON ..., schlaflose Nächte bereitet, weil weder Schwester noch Vater noch Bruder noch sonstwer in London waren, sondern nur ich selbst, aber ich selbst eben auch das T-Shirt anziehen wollte im Heimatort Villingen-Schwenningen, und damit die ganze Message auf den Kopf gestellt wird. Andererseits ist wohl die einzige Person, der das schlaflose Nächte bereitet, yours truly, also warum erzähle ich Dir diese Scheiße überhaupt?

Anyway, die deutschen Touristen am Trafalgar Square und die deutschen Bewohner Berlins und die nicht-deutschen Bewohner und Bewanderer der Straßen Berlins und Londons - ich hab sie alle gesehen, ich, das Schaf, das vor vier Tagen noch dumpf und deppert auf der grünen Wiese graste - und jetzt fühle ich mich reif für die Schlachtung.

Schlachtung als Selbstzweck zum Übergang ins Instant-Karma, raus aus diesem menschgewordenen Ameisennest voller gefälliger Individual-Identitäten auf dem Weg von A nach B, und zurück ins Afterlife auf dem Standort grüne Wiese, so stelle ich mir das vor.

Weil mich das nämlich alles so klein macht und weil es mir Angst macht und es mich verstört und vor allen Dingen: weil es mir meine eigene Identität, die ich endlich vor zwei Monaten nach langer mühsamer Arbeit wiedergefunden hatte, weggeblasen hat als wäre es ein Scheiß-Zellophanpapierchen im Wind.

Alle anderen haben eine Identität nur ich nicht. Die haben in Uganda gelebt, oder malen Bilder oder haben einen Gott oder verstehen Fargo, den Film von den Coen-Brüdern, oder stellen Fotos von ihren Freunden und Geliebten in ihren Wohnungen auf, auf denen steht: "Ich hab Dich lieb!"

Ich hab nur einen Teddybär auf meinem Bett liegen, auf dessen Latzhose mein eigener Scheißname gestickt steht. Immerhin ein Geschenk von meiner Oma!

Selbstmitleid? Ja sicher, da mache ich jetzt auch keinen Hehl mehr draus, aber vielmehr noch besagte Konfusion, wenn einem im Angesicht anderer Menschen, die man zudem auch noch leiden kann und denen man das alles auch noch gönnt, die man dafür sogar bewundert, das eigene Ich mit den dazugehörigen sich selbst definierenden Attributen wegplatzt wie eine Seifenblase.

Sobald ich es dann laut äußere entsteht ein großes Backenblasen und Kopfschütteln und "OH" und "ACH QUATSCH!" und dann wird wacker versucht, mich zu widerlegen unter Aufzählung von Dingen, die ich kann, weiß und bin, das passiert dann alles ein wenig zu fix, dramatisiert und bemüht, als wäre es ein Knopf, der gedrückt wird auf dem steht: "NICI IHRE IDENTITÄT WIEDERGEBEN". Da steht es, das arme Schaf und glotzt.

Also Du hast ja auch eine Identität und für einen Münchner - no offense - eine ganz schön coole Visage. Da fällt mir auch wieder dieser Moment ein, an dem ich Dich zum ersten Mal in persona gesehen habe, als Du im Leonberger Freibad vor dem Café neben dem Warmbecken an einem Tisch auf einem der Platikschalenstühle saßt (wo nach zwei Minuten der Arsch festklebt, als wär man mit Pattex Superkleber reinzementiert worden) - mit Deinem 1. FC Bayern Anglerkäppi, Deiner engen Badehose und der Carrera-Sonnenbrille, vor Deinem kleinen Bierbauch ein bereits schwitzendes Weizenbier und Skatkarten in der Hand. Natürlich hat Dich niemand außer mir erkannt, aber ich wusste es gleich, auch wenn mir klar war, dass Du schon tot bist. Schließlich kam Jesus auch nochmal zurück, warum dann nicht Du ebenso.

Ich hab es übrigens nie jemand erzählt und ich denke, das ist ganz in Deinem Sinne.

Jetzt muss ich mal kucken, wie ich diese bevorstehenden sieben Tage in der Hauptstadt, bzw. die unzähligen Tage in meinem Leben noch rumbringe, mit oder ohne Identität.

Bis dahin vertiefe ich mich wahrscheinlich noch in Dein Werk, in das von Ibsen oder JWM Turner und schreibe einen Scheiß-Roman, damit die Rente gesichert ist.

Drück mir die Daumen und feel free to come back and visit at any time!

In treuer Freundschaft, alles Gute ins Jenseits,

Deine Nici

Nici Halschke, geboren 1969, in Leonberg, Baden-Württemberg. Sie veröffentlichte in Schlag Sahne, in Der Pudel und ist in zahlreichen Lesungen zu sehen. Der obenstehende Text stammt aus Halschkes Reihe Briefe an Prominente.


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