Wie sitzt man in den Stadien? Sehen die Fußballer eigentlich gut aus? Passend frisiert? Was machen Waden, Strümpfe, Hosen? Gilt Knigge bei den Trainern und gibt es noch fußballerisches Liedgut? In den folgenden Wochen wird der Freitag-Sportplatz die Weltmeisterschaft 2002 aktuell als ein ästhetisches Phänomen kommentieren. Denn eines ist klar: Fußball ist Geschmackssache.
Weshalb für teures Geld nach Japan und Südkorea fliegen, wenn man sämtliche Spiele bequem vor der eigenen Glotze reinziehen kann? In diesem Jahr mag der Entscheid, auf das Live-Erlebnis vor Ort zu verzichten, tatsächlich leicht gefallen sein. In vier Jahren aber, wenn die weltbesten Balltreter vor der Haustür um den Weltpokal kicken, werden sich selbst Gelegenheitsfans überlegen, ob sie nicht auch mal ihre Lieblingself ins Stadion anfeuern gehen sollen. Weshalb eigentlich? Ob im Stadion, pardon: Arena heißt das heute, oder zu Hause macht doch keinen Unterschied mehr. Denn: Moderne Fußballstadien, eignen sich für alles mögliche, außer für den Genuss von Fußballspielen. Ein Blick auf die Austragungsstätten der WM 2002 in Japan und Korea bestätigt dies. Wer zum Beispiel auf einschlägigen Seiten im Internet nach Informationen zu fußballspezifischen Qualitäten der Stadien sucht, findet sozusagen nichts. Dafür weist man in Korea stolz auf die Hochzeitskapellen hin, die in mindestens zwei der WM-Stadien eingebaut sind. Shoppingzentren, Kinos und sogar Altenheime in Sportarenen kennen wir; den Bund des Lebens in diesen seltsamen Ovalbauten zu schließen, ist aber ein gar befremdender Gedanke.
Ein Stadion nur auf seine Kapelle zu reduzieren, ist natürlich unredlich. Zu offensichtlich sind die Bemühungen der Architekten, Planer und Marketingstrategen bei Stadionneubauten, König Fußball ganz ins Zentrum zu rücken. Leinwände und Bildschirme allüberall, Sichtoptimierung dank pfeilerloser Tribünenkonstruktion, kurze Distanz der untersten Bankreihe zur Rasenfläche, möglichst steiler Neigungswinkel der Zuschauerrampe, Klimaanlage im Sommer, beheizbare Sitze im Winter, ein kulinarisches Angebot von Bratwurst bis Kaviar, von Fassbier bis Bordeaux. Kurz: Alles, was es braucht um glücklich zu sein oder zumindest um sich wohl zu fühlen. Gerade so wie zu Hause.
Was einst die Atmosphäre in einem Fußballstadion ausmachte (und in den Stadien der unteren Ligen zum Glück noch zu finden ist), wird bei den Millionen-Neubauten eingeebnet. Der Zuschauer wird nicht mehr als Teil des Spielgeschehens mitgedacht, sondern erhält die Rolle des Kunden zugeschrieben - Sie bezahlen und wir liefern den besten Service. Dabei entfällt die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung des Sports zugunsten der medialen Vermittlung des Spielgeschehens. Mit den Spielern leiden bei Wind und Wetter, Körperkontakt zu anderen Fans - vorbei die Zeiten. Gleichsam atomisiert findet sich das Publikum in der modernen Arena wieder. Gebannt starrt jeder einzelne nach einem Tor auf die Leinwand, um die Wiederholung des entscheidenden Spielzugs nicht zu verpassen. Waren Torszenen einst Anlass zu lebhaften Diskussionen auf den Rängen darüber, wer nun mit welchem Fuß den entscheidenden Pass abgegeben hat, so flutscht heute die Gewissheit frei von Zweifeln und gestochen scharf in Pixelform über die Anzeigetafel. Daneben findet sich womöglich ein Temperaturanzeige, damit man weiß, wie kalt es ist, wenn man sich vom geheizten Sessel oder aus der klimatisierten Loge nach Spielende in die Tiefgarage begibt.
Form kommt vor Inhalt. Oder wie es Volkwin Marg, unterlegener Architekt beim Wettbewerb für den Bau der Allianz-Arena in München nennt: Bei Stadionprojekten wie dem siegreichen "Schlauchboot" von Herzog De Meuron handelt es sich um "Inszenierungsarchitektur". Was interessiert einen Fußballfan die Form des Tribünendachs? Ob sichelförmig wie das Helmemblem eines mittelalterlichen Kriegers (Miyagi Stadium, Japan) oder eine bewegliche, kugelförmige Struktur, die mit der Hügellandschaft der Umgebung harmoniert (Big Eye Stadion, in Kyushu) - bei der WM 2002 ist alles zu haben. Was dies aber mit dem eigentlichen Fußballspiel auf dem Rasen zu tun hat, soll einer mal verstehen. Getrost kann man sich also den Gang in die Arena sparen. Das lohnt sich einerseits finanziell, andererseits bieten einem die eigenen vier Wände mindestens den selben Luxus wie die neuen Sporttempel. Der Logenplatz vor dem TV ist geheizt oder klimatisiert, das kulinarische Angebot ist eindeutig breiter (und dazu billiger), die Schlüsselszenen werden wiederholt. Und auch zu Hause versperrt kein Pfeiler die Sicht auf das Spielgeschehen. Wenn Sie in den nächsten Tagen ein WM-Spiel angucken, seien Sie sich bewusst: Der bekannte Slogan einer TV-Station, wonach Sie in der ersten Reihe sitzen, ist durchaus ernst gemeint.
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