Was genau macht eigentlich den Reiz aus, semi-anorektischen Knabengestalten zuzuschauen, wenn sie sich mit hundert Sachen von einer Schanze hinunter in die Tiefe stürzen? Ist es die pure Lust am Spektakel oder etwa doch banges Mitfühlen und Hoffen auf die erlösende Landung? Obwohl eine vormals luxemburgische Fernsehanstalt der seltsamen Sportart in den vergangenen Jahren zu einem kommerziellen Boom verholfen hat und seither die Hannis und Höllis popstargleich in Szene setzt, bleibt die Essenz der winterlichen Schwerkraftüberwindung weiterhin verborgen. Die medial oktroyierte Starattitüde übertüncht die eigentlichen Freuden (und vor allem Leiden) der todesmutigen Athleten. Für die Skispringer mag diese Rolle einen willkommenen Schutzpanzer bieten, der sie vor allzu tiefgründigen Analysen ihres seltsamen Tuns bewahrt. Für einen Freund des Skisprungsports, der sich für mehr als nur Sprungweiten und Haltungsnoten interessiert, ist dies aber unbefriedigend.
Die bislang einzigen erfolgreichen Versuche, sich der Psyche von Skispringern zu nähern, sind künstlerischer Natur. Kein Geringerer als der Regisseur Werner Herzog hat vor knapp 30 Jahren ein Porträt des Schweizer Skifliegers Walter Steiner gedreht, das die Ängste, Selbstzweifel, aber auch die Sprachlosigkeit dem eigenen Tun gegenüber auf unnachahmliche Weise darstellt. Dank der geschickt inszenierten Überhöhung der Wettkampfdramatik und der ständigen Präsenz des Autors in der Rolle des naiv-beeindruckten Sportreporters, gelingt es Herzog, das Vertrauen des wortkargen und kauzigen Holzbildhauers - dem damals weltbesten Skiflieger - zu gewinnen. Steiner mag mit seiner grübelnden Art ein untypischer Sportler gewesen sein, seine Gedanken zur sensationslüsternen Erwartungshaltung des Publikums, das ihn am liebsten spektakulär stürzen sehen möchte, so seine Mutmaßung, sind aber erstaunlich aktuell.
Obwohl Filmkritiker dazu neigen Die Große Ekstase des Bildschnitzers Steiner - dies der Titel des Films - als ein Selbstporträt Herzogs zu sehen, ist dessen Wert für das Verständnis des Skisprungsports und vor allem für dessen Protagonisten nicht zu unterschätzen; so unterschiedlich sind diese beiden Sichtweisen denn auch gar nicht, schließlich ist Herzog in seiner Jugend selbst Ski gesprungen und träumte davon, in der Königsdisziplin Skifliegen Weltmeister zu werden. Ein Traum der Herzog vergönnt bleiben, den sein Hauptdarsteller in den siebziger Jahren aber gleich zweimal erreichen sollte.
Zentrales Moment beim Skispringen (und beim Skifliegen im Besonderen) ist zweifelsohne die Angst. Nicht nur für den Zuschauer, der schon beim Besteigen einer Sprungschanze zittrige Knie kriegt, sondern auch für den Athleten selbst. Die Tatsache, dass eine plötzliche Windbö den perfekten Sprung in Sekundenbruchteilen in einen Kampf um Leben und Tod verwandeln kann, interessierte Herzog; nicht zuletzt auch als Metapher für seine eigene Tätigkeit als Filmemacher, wie er vor vier Jahren in einem Interview erklärte: "Beim Filmemachen - und sicherlich auch im Leben - stellt sich die Frage nach der Angst genauso. Sie bekommen auf einmal zittrige Hände und wissen, das können Sie eigentlich nicht mehr bewältigen und trotzdem wagen Sie es, trotzdem wagen Sie die Existenz. Weil eben etwas dahintersteht, das wichtiger ist, als die private Person."
Dass diese permanente Angst mitunter auch gravierende Auswirkungen auf den Alltag der Skispringer neben der Schanze haben kann, wissen zwei Liedermacher aus Wien besonders gut. Christoph Lollo, so heisst das Duo, widmen ihre Texte einzig und allein Skispringern; inzwischen füllen ihre "Schispringerlieder" bereits drei Tonträger. Alles frei erfunden, teilen die Wiener mit, angesprochen auf den Wahrheitsgehalt ihrer Lieder. Die Texte seien viel mehr Ausdruck ihrer eigenen desolaten Gefühlslage. Und so klingt´s denn auch. Die meist in Moll gehaltenen Stücke handeln von Beziehungsproblemen, übermäßigem Alkoholkonsum und anderem nur allzu menschlichem Unbill. Ähnlich wie Herzog nähern sich auch Christoph Lollo über ihren eigenen Erfahrungshorizont den Wintersportlern und dürften damit in manchen Fällen um einiges näher an der Realität liegen als uns das geschönte Superstar-Image auf der Mattscheibe zu vermitteln versucht. Dass Adam Malysz, der schmächtige Abräumer aus Südpolen, ein Einzelgänger ist und am liebsten zu Haus hockt oder etliche finnische Spitzenspringer neben der Schanze gern eins über den Durst trinken, mag zwar allgemein bekannt sein, so mitfühlend und vor allem - leidend wie aus den Kehlen der Wiener "Schispringerlieder"-Sänger kriegt man dies kein zweites Mal zu hören.
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