Äußerst gefährlich, aber wirksam

Sicherheitsrisiko Der unter dem Produktnamen Contergan bekannte Wirkstoff Thalidomid hat eine traurige Geschichte - jetzt kämpfen Ärzte für breiten Einsatz und Kostenerstattung

Fluch oder Segen? Anfang der sechziger Jahre verursachte der Wirkstoff Thalidomid unter anderem in den Schlaf- und Beruhigungsmitteln Contergan und Contergan Forte einen der größten Arzneimittel-Skandale. Heute soll Thalidomid AIDS-, Lepra- oder Krebserkrankten Linderung verschaffen oder gar ihr Leben verlängern können. Deutschland als Wiege des Skandals fällt der Umgang mit Thalidomid noch immer schwer. Auch wenn sich Regierung, Ärzte, Pharmaunternehmen und auch die Opfer der Contergan-Tragödie einig sind, dass Schwerstkranke Zugang zu Thalidomid haben müssen, sind Vorbehalte und Berührungsängste groß.

Bislang nur auf Privatrezept

Ärzte und Bundestagsabgeordnete drängen nun auf den breiten Einsatz Thalidomids - besonders seit das englische Pharmaunternehmen Pharmion seinen Antrag auf europaweite Zulassung Ende 2004 zurückgezogen hat. Der Bundesverband Contergangeschädigter wirft der Bundesregierung, den Ärzteverbänden und der Pharmaindustrie vor, weder für ausreichend Kontrolle gesorgt noch die Frage nach der Verantwortung geklärt zu haben und fürchtet eine Wiederholung der Geschichte. Und die Patienten? Die warten. Jährlich erhalten in Deutschland 3.500 Menschen die Diagnose Knochenkrebs, aber nur 2.000 Privatversicherte bekommen auf eigenes Risiko Thalidomid.

Unter öffentlichem Druck musste Ende November 1961 die nordrhein-westfälische Firma Grünenthal ihr Mittel vom deutschen Markt nehmen. Grund dafür war, dass Thalidomid irreparable Nervenschäden und Missbildungen von Embryonen verursacht hatte. Seither ist Thalidomid wegen seiner positiven Wirkungen dennoch nie ganz verschwunden - unter anderem hemmt der Wirkstoff bösartige Krebszellen am Wachstum. International behandelten Ärzte vor allem in Schwellen- und Entwicklungsländern, aber auch Lepra-Kranke mit Thalidomid. Mittlerweile ist der Wirkstoff in den USA, Australien und anderen Ländern wieder offiziell zugelassen. Die Sicherheitsvorkehrungen reichen aber auch heute nicht aus: In Brasilien sind wieder geschädigte Kinder zur Welt gekommen.

Auch für den deutschen Markt gibt es ein fertiges Produkt. Für die Zulassung ihrer Thalidomid-Kapseln legte das Pharmaunternehmen Pharmion im November 2002 bei der Europäischen Zulassungsstelle für Arzneimittel (EMEA) und damit auch beim deutschen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) seinen Antrag vor. Und zog ihn überraschenderweise zwei Jahre später wieder zurück. Aus strategischen Gründen, sagt das Unternehmen, um die Anwendung auf andere Krankheiten zu prüfen und den Antrag zu einem späteren Zeitpunkt wieder einzubringen.

Nach Pharmions Rückzug kämpfen Ärzte und ihre Verbände jetzt umso mehr für gesellschaftliche Akzeptanz und machen Druck, Thalidomid breiter einsetzen zu können. Schon jetzt ist es möglich, jenseits seiner offiziellen Zulassung Thalidomid im Rahmen eines so genannten individuellen Heilverfahrens anzuwenden, auf das sich Arzt und Patient einigen können, wenn andere Arzneimittel oder Therapien fehlschlagen. Die Verordnungsfreiheit sei zwar verbreitet, berge aber auch erhöhte Risiken für den Arzt, sagt Gottfried Kreutz, Leiter der Abteilung klinische Pharmakologie des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte. "Es gibt keine Rechtsnorm, keine behördliche Überwachung und es gilt die Umkehr der Beweislast für den Arzt." Apotheker importieren den Wirkstoff laut § 73 Absatz 3 des Arzneimittelgesetzes (AMG) und mischen das Mittel zusammen. Die Herstellung ist nicht ungefährlich: Wer Thalidomid-Staub einatmet, könnte ein missgebildetes Kind zeugen oder gebären, heißt es jüngst in einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO), die Speerspitze im Kampf um die Freigabe Thalidomids.

Dass Thalidomid in Deutschland mehr eingesetzt wird, scheitert auch daran, dass bislang nur private Krankenkassen die Therapiekosten übernahmen. Dagegen klagten immer wieder gesetzlich versicherte Patienten und deren Ärzte. Bislang erfolglos. Die gesetzlichen Kassen berufen sich unter anderem auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom vergangenen Mai. Danach müssen sie in Deutschland nicht zugelassene Medikamente auch nicht erstatten.

Die DGHO will sich mit dem generellen Erstattungsausschluss nicht abfinden und fordert jüngst in einem Gutachten eine "medizinische Bewertung im Einzelfall". Bemerkenswert ist, dass Gutachter des Verbandes sich gleichzeitig bei Pressekonferenzen des Herstellers Pharmion für Thalidomid stark machen. So schlüpfte auch Axel Glasmacher, Privatdozent an der Universität Bochum, in die Doppelrolle und setzte sich sowohl in einer DGHO-Studie als auch als Referent bei einer Veranstaltung des Pharmaunternehmens Ende 2004 für den Wirkstoff ein. Thalidomid beschäftigt nicht nur Ärzte, Patienten und Pharmaunternehmen. Mittlerweile erreichte die Diskussion auch den Bundestag. Während des Januar-Plenums stellte die fraktionslose Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch (PDS) die Frage, ob es sozial gerecht sei, Thalidomid an Privat-, nicht aber an gesetzlich versicherte Kassenpatienten abzugeben.

Undurchsichtige Zuständigkeiten

Wegen einer fehlenden Transparenz der Zuständigkeiten ist es nicht immer leicht, Antworten auf Fragen wie die von Gesine Lötzsch zu bekommen. So sei etwa das Bundesgesundheitsministerium (BMGS) als oberste Verwaltungsbehörde im Gesundheitswesen keinesfalls Ansprechpartner für das Thema Thalidomid, sagt Sprecherin Angelika Nikionok-Ehrlich. Zwar stufe das Ministerium den Wirkstoff als "äußerst gefährlich" ein, haftbar zu machen sei jedoch ausschließlich der verschreibende Arzt. Auch für die Überwachung und Kontrolle sei das Bundesministerium nicht zuständig, sondern die Landesbehörden. Nicht alle sind über ihre Aufgaben informiert. "Wir haben damit nichts zu tun", sagt zumindest Adolf Windorfer, Leiter der Gesundheitsamtes in Niedersachsen. Und auch Ursula von der Leyens Gesundheitsministerium fühlt sich ebenso wenig angesprochen wie die niedersächsische Apothekerkammer.

Noch Ende 2003 bezog das BMGS in einem Schreiben Stellung und lehnte den Import Thalidomids entschieden ab, weil es "kein Risiko-Überwachungsprogramm gebe, welches dem gegenwärtigen Kenntnisstand über die Anwendung von Thalidomid am Menschen angemessen Rechnung trüge". Am Sicherheitsstand hat sich seither nichts geändert: Nach seiner Kenntnis gebe es weiterhin in Deutschland kein Überwachungsprogramm, bestätigt auch Ralph Naumann, hämatologisch-onkologischer Oberarzt an der Universität Dresden.

Verdrängung der Contergan-Opfer

Der Bundesverband Contergangeschädigter kritisiert das Hin- und Herschieben von Verantwortungen und die Geheimniskrämerei von Verantwortlichen und Akteuren. Grund für die Tabuisierung Thalidomids in Deutschland sei die unzureichende Auseinandersetzung mit dem Skandal vor mehr als 40 Jahren und seinen Opfern, sagt dessen Vorsitzende Margit Hudelmaier. Zwar habe die EMEA und auch das Bundesgesundheitsministerium Vertreter des Bundesverbandes 2003 eingeladen, um über den Antrag Pharmions und die Wiederzulassung zu sprechen. "Doch man nahm uns dort nicht ernst".

Auch die zunehmenden finanziellen und gesundheitlichen Probleme der 2.700 Contergangeschädigten würden ignoriert, beklagt der Verband. Wegen Überlastung und atypischer Benutzung leiden immer mehr an massiven Verschleißproblemen ihrer Wirbelsäulen und Gelenke und müssen nicht selten früh verrentet werden. Es gibt Behandlungsmethoden. Doch die sind teuer, nicht jeder kann sie bezahlen. Die vergleichsweise geringe Rente - die Opfer in Deutschland erhalten bis zu maximal 6.540 Euro im Jahr - reicht dafür nicht aus.

Andere Länder gehen offensiver mit den Folgeschäden der Geschädigten um: So zahlt jetzt die Nachfolge der damaligen Vertreiberfirma Distillers in England, die Diageo Unternehmensgruppe, einmalig und zusätzlich zur jährlichen Rente in Höhe von 20.000 Euro noch einmal 14.000 Euro. Das in Deutschland zuständige Bundesfamilienministerium weiß noch nicht einmal, wann es angesichts der angespannten Haushaltslage die Renten das nächste Mal anheben kann. Die letzte Erhöhung liegt drei Jahre zurück. Der Hersteller Grünenthal selbst fühlt sich nicht verantwortlich.


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