Die Mächtigen durchschauen

Transparenz Auch bei den ­Piraten ist die politische Forderung nach absoluter Offenheit nur Schlagwort. Nötig ist ein empanzipatorisches Konzept

Wer sein Haupt gegen die Mächtigen reckt, muss auf kräftigen Gegenwind gefasst sein. Der bläst der Piratenpartei seit ihrem Wahlerfolg in Berlin reichlich ins Gesicht und ist mit dem Bundesparteitag vom vergangenen Wochenende noch stärker geworden. „Bei den Piraten fehlte die bei anderen Parteien selbstverständliche Transparenz ... darüber, wie viele Stimmberechtigte aus welchen Bundesländern kamen“, krittelte etwa die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung.

In der Tat ist es ja vor allem Transparenz, die sich die Piraten auf die Fahnen geschrieben haben. Wer sie zuerst in Delegiertenlisten wiederzufinden verlangt, hat allerdings die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Es geht um eine ganz andere Dimension. Die Piraten sind – ebenso wie etwa die Occupy-Bewegung – nur Ausdruck eines neuen gesellschaftlichen Kraftfelds, das mit zunehmender Wucht gegen die geschlossenen Apparate in Staat, Wirtschaft und Technik angeht.

Erodiertes Vertrauen

Für diese Apparate bedeutete Transparenz bislang, die Bürger und Konsumenten genau im Blick zu haben, statistisch zu erfassen oder gar individuell zu überwachen. Das Informationsbedürfnis der Bürger hingegen prallte oft genug am Amts- oder Geschäftsgeheimnis ab. Sie sollten einfach darauf vertrauen, dass die Repräsentanten in der parlamentarischen Demokratie verantwortungsvoll mit ihrem Mandat umgehen.

Doch dieses Vertrauen ist über Jahrzehnte in diversen Skandalen erodiert, so dass die Beschwichtigungen, alles genüge Recht und Gesetz, immer weniger Menschen überzeugen. Und es erodiert weiter, wenn herauskommt, dass der Verfassungsschutz einmal mehr auf dem rechten Auge blind war, während behördlich bekannte Neonazis Menschen ermordeten; wenn sich herausstellt, dass der ehemalige US-Verteidigungsminister Henry Paulson 2008 Hedgefonds-Manager vorab informierte, dass die US-Regierung die bankrotten halbstaatlichen Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac retten würde; oder wenn bekannt wird, dass Facebook über Jahre auch jene Nutzerdaten speichert, die ausdrücklich gelöscht werden sollten. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen bis hinunter auf die Ebene der lokalen Verwaltungen.

Waren die Bürger früher auf die Medien angewiesen, um derartige Vorgänge öffentlich zu machen, haben sie mit dem Internet ein eigenes Werkzeug an die Hand bekommen. Mit ihm kann Transparenz in einem zuvor ungeahnten Ausmaß hergestellt werden, wie die Whistleblower-Plattform Wikileaks 2010 eindrucksvoll demonstriert hat. Und doch geht es um mehr als einfach nur die massenhafte Bergung versteckter Fakten mit digitalen Mitteln, die – wie Wiki-leaks ebenfalls zeigt – den Verlockungen der Aufmerksamkeitsökonomie erliegen und zum Selbstzweck werden kann.

Die Räterepublik war schon weiter

Den Gedanken der Transparenz weiter zu entwickeln, heißt auch, die repräsentative Demokratie zu überdenken. Denn Transparenz bedeutet nicht nur, das wissen zu können, was man wissen will. Sie bedeutet gerade auch, Handlungen konkreten Akteuren zuschreiben und Verantwortlichkeit definieren zu können. Die parlamentarische Demokratie europäischer Prägung hat dies nur bis zu einem bestimmten Grad zugelassen. Wenn der Souverän seine Repräsentanten gewählt hat, sind diese keinem bindenden Mandat unterworfen. Sie können ihre Entscheidungen nachvollziehbar machen, müssen es aber nicht. Die Exekutive in Form der Verwaltungen hat überhaupt keine verpflichtende Rückbindung mehr an den Bürger und agiert zuweilen wie eine kafkaeske Bürokratie. An den Werks- und Bürotoren wird die Demokratie erst gar nicht eingelassen, so dass die Bürger nicht entscheiden können, was wie produziert wird – die Produktion bleibt opak. Die Rätedemokratie war da in ihrem kurzen und unglücklichen Zwischenspiel 1918/19 zumindest theoretisch weiter. Mit dem imperativen Mandat band sie die Handlungen von Delegierten und versuchte auch die wirtschaftliche Sphäre ihrem demokratischen Prinzip zu unterwerfen.

Denkt man Transparenz in dieser Linie zuende, bedeutet sie zu fordern nichts weniger als den Ruf nach einer „Autogestion“, einer Selbstverwaltung, wie ihn die libertäre Linke im Frankreich der 1960er Jahre propagierte. Das Internet könnte eines fernen Tages die technische Plattform einer Autogestion werden. Diese Verknüpfung ist aber selbst bei der Piratenpartei noch nicht zu erkennen.

Einige ihrer Vertreter versuchen, Transparenz als individuelle Strategie zu praktizieren. Sie legen ihr Privatleben exzessiv im Netz offen, weil Datenschutz und Privatsphäre ohnehin nicht mehr aufrechtzuerhalten seien. In Wahrheit ist diese „Post-Privacy“-Strategie jedoch nur eine neue Spielart der Privatisierung des öffentlichen Raums. Dieser wird mit Daten vollgemüllt, auf die sich wiederum die kapitalistische Aufmerksamkeitsökonomie stürzen kann.

Die Piratenpartei wäre besser beraten, den öffentlichen Raum als Sphäre des selbstverantworteten Handelns aller zu besetzen und darauf hinzuarbeiten, die geschlossenen Apparate zu knacken. Dann würde Transparenz vom Schlagwort zu einem emanzipatorischen Konzept.

Niels Boeing ist Journalist und spezialisiert auf Netz- und Technik-Themen. Im Freitag schrieb er zuletzt über den Cyberwar

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