Sündenfall der modernen Wissenschaft?

Anlässlich des 100. Geburtstags von Robert Oppenheimer Zwei liebgewordene Mythen über naturwissenschaftliche Erkenntnis und Technik

Ein Küchenmesser kann töten. Dennoch verbietet kein Land das Küchenmesser, dazu ist es viel zu nützlich." Mit diesem Vergleich nahm Huanming Yang, der Leiter des Genomics Institute in Peking, jüngst in einem Interview zu den Risiken der Gentechnik Stellung. In anderen Worten: Die Technik (die Wissenschaft) ist unschuldig; nur die Anwendungen sind gut oder schlecht.

Wenn sich in dieser Woche der Geburtstag Robert Oppenheimers, des "Vaters" der Atombombe, zum hundertsten Mal jährt, wird wieder vom Sündenfall der modernen Wissenschaft die Rede sein. Viele der brillantesten Physiker des 20. Jahrhunderts, darunter Albert Einstein, Enrico Fermi und Richard Feynman, waren an der Entwicklung der Bombe beteiligt, um Hitler-Deutschland zuvorzukommen - und bereuten es schon nach dem ersten und einzigen Test im Juli 1945. Die Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki einen Monat später konnten sie nicht mehr verhindern. Das US-Militär hatte die Sache endgültig in die Hand genommen.

Die Büchse der Pandora ...

Der Fall scheint klar: Naive Wissenschaftler haben mit ihren Erkenntnissen eine Büchse der Pandora geöffnet, die sich in den Händen von verantwortungslosen Zeitgenossen in eine mörderische Waffe verwandelt. Und dieses Muster kann sich jederzeit wiederholen. Diese Interpretation liegt auf der Hand - ist aber leider nicht haltbar, weil sie auf zwei modernen Mythen aufbaut. Der Erste: Naturwissenschaftliche Erkenntnis und Technik sind voneinander getrennt. Der Zweite: Technik an sich ist neutral, es kommt nur darauf an, wie man sie einsetzt.

Bis heute lernen wir in der Schule, dass der Physiker die Natur teilnahmslos beobachtet und sich dann in sein Kämmerlein zurückzieht, um mit dem geistigen Werkzeug der Mathematik ihre Gesetze herauszuarbeiten. Das Ergebnis bekommt der Techniker in die Hand und ersinnt einen Apparat, der dann erstaunliche Dinge vollbringt. Das mag noch für das Gravitationsgesetz gelten: Newton sah der Legende nach den Apfel auf die Erde fallen, verfasste seine Gleichungen, und 250 Jahre später bauten Ingenieure auf ihrer Grundlage Raketen, die das Sonnensystem erkunden. Doch seit dem 19. Jahrhundert sind viele Durchbrüche in der Physik nur noch durch ausgeklügelte technische Instrumente zustande gekommen. Manche Erkenntnis ist gar nicht mehr von ihnen zu trennen. "Einige der erstaunlichsten Entdeckungen der Wissenschaft - wie die Gesetze der Thermodynamik - wurden nicht im Hinblick auf die ›bloße Natur‹ gemacht, sondern aufgrund von Problemen, die Maschinen - also Technik - aufgaben", schreibt der US-amerikanische Technikphilosoph Don Ihde, und weiter: "Die Thermodynamik entstand aus den Rätseln der Dampfmaschine." Laser und Supraleitung sind weitere Beispiele für Phänomene, die überhaupt nur in technischen Apparaten entdeckt werden konnten.

Schaut man sich die Liste der Physik-Nobelpreise - vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - an, stellt man fest, dass vermehrt technische Versuchsanordnungen oder gar lupenreine technische Erfindungen ausgezeichnet wurden. Das gilt besonders für Erkenntnisse über den Aufbau der Materie und die Kräfte, die ihre Bestandteile zusammenhalten. Von der Versuchsanordnung zur Beherrschung solcher Phänomene sind es mitunter nur wenige Schritte in der Veränderung des technischen Designs. So führt eine direkte Linie von der Untersuchung der Kernspaltung zum Prinzip eines Reaktors, um daraus Energie zu gewinnen, ebenso wie zum Prinzip der Atombombe.

... in diabolischen Händen

An dieser Stelle kommt der zweite Mythos von der Neutralität der Technik ins Spiel: Es sei unsere Entscheidung, einen "guten" Reaktor oder eine "schlechte" Bombe zu bauen - Yangs Küchenmesser-Argument. Doch auch dieses Argument greift zu kurz, denn keine Technik existiert in einem politischen oder ethischen Vakuum. Dass die Beherrschung einer potenziell sehr gefährlichen Technik zwangsläufig prekäre Folgen hat, haben Technikkritiker in den vergangenen Jahrzehnten am Beispiel der Kernkraft deutlich herausgearbeitet. Der kalifornische Reaktor Diablo Canyon sei ein "sehr gutes Beispiel für eine inhärent politische Technologie", hat der Amerikaner Langdon Winner in seinem Buch The Whale and the Reactor klargestellt. "Sein Betrieb erfordert ein autoritäres Management und extrem straffe Sicherheitsvorkehrungen. Es ist eine dieser in der modernen Gesellschaft immer weiter verbreiteten Strukturen, die so gefährlich und verwundbar sind, dass sie gut überwacht werden müssen." Wer daran zweifelt, sollte eine Anlage wie das AKW Biblis oder das Zwischenlager Gorleben besichtigen.

Ausweg Simulation

Zu glauben, dieses Problem ließe sich dann eben durch einen präventiven Forschungsstopp bei der Wurzel packen, ist jedoch naiv. Denn der moderne Mensch kann nicht anders, als mit der Welt technisch umzugehen, um sie zu verstehen. Oder, wie es Martin Heidegger 1950 in einem Vortrag formulierte: "Die Technik ist also nicht bloß ein Mittel. Die Technik ist eine Weise des Entbergens." Und das "Entbergen" ist hier nichts weniger als die Suche nach Wahrheit. Sehr frei in Anlehnung an Platos Diktum, der Mensch sei ein Zoon politikon, ein politisches Wesen, könnte man den modernen Menschen denn auch ein Zoon technikon nennt.

Müssen wir also angesichts dieses Schicksals in Depression verfallen? Vielleicht nicht. Eine Sicherheitsvorkehrung - wenn schon keinen Ausweg - bietet nämlich ausgerechnet ein Zweig der Technik, der den PhysikerInnen des Manhattan Project noch nicht zur Verfügung stand: die Informationstechnik. Sie hat uns das Werkzeug der Simulation von Ereignissen im Computer gebracht. Hätte es Oppenheimer und seinen Mitstreitern zur Verfügung gestanden, hätten sie wohl immerhin erkannt, dass keine Gefahr besteht, die erste Textexplosion könne die Atmosphäre in Brand setzen. Diese Befürchtung hatten Carl Friedrich von Weizsäcker und Enrico Fermi geäußert. Sie hätten aber vielleicht auch erkannt, welche verheerenden Langzeitfolgen die Bombe jenseits der unmittelbaren physischen Zerstörung durch den radioaktiven Fallout hat. Das Mittel der Simulation "könnte einen radikalen Einschnitt in der Geschichte der Technik bedeuten, der dazu beitragen könnte, die negativen Folgen einer neuen Technologie weiter zu minimieren, ja: vielleicht sogar ihren Gau von vornherein auszuschließen", hofft der Philosoph Walther Christoph Zimmerli, derzeit Präsident der Volkswagen-Universität. Für die technische Nutzung der Kernkraft kommt dieses Mittel zu spät. Ihr Gau hat bereits mehrfach stattgefunden, in Hiroshima, Nagasaki, Tschernobyl. Auf den neuen Gebieten der Bio- und der Nanotechnik, die unser Leben in den nächsten Jahrzehnten prägen werden, könnte uns der Gau noch erspart bleiben.


Robert Oppenheimer

"Nie zuvor", schrieb ein Augenzeuge des ersten Atombomben-Tests vom 16. Juli 1945, "hat es ein so gewaltiges, von Menschen hervorgerufenes Phänomen gegeben (...). Es war wie eine Mahnung an das Jüngste Gericht und liess uns fühlen, dass wir kümmerliche Wesen Gott lästerten." Keinen Monat später zerstörten zwei Atombomben Hiroschima und Nagasaki.

Entwickelt worden war die Bombe vom Manhattan-Projekt unter der Leitung Robert Oppenheimers. Der Kernphysiker, der auch Chemie und Altphilologie studiert hatte, wurde am 22. April vor 100 Jahren als Sohn deutscher Einwanderer in den USA geboren.

Als der Manhattan-Mitarbeiter Edward Teller nach dem Krieg vorschlug, die noch stärkere Wasserstoffbombe zu bauen, weil die Sowjetunion unterdessen auch über Atombomben verfügte, setzte sich Oppenheimer vehement gegen dieses Vorhaben ein. Die McCarthy-Kommission qualifizierte ihn daraufhin als "Sicherheitsrisiko"; Oppenheimer wurde aus allen geheimen Projekten ausgeschlossen - während die Wasserstoffbombe gebaut wurde. 1963 - vier Jahre vor seinem Tod - wurde Oppenheimer von Präsident John F. Kennedy rehabilitiert.

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