Traue keinem unter einem Mikrometer

Nano-Gefahren Neueste Studien zeigen gefährliche Nebenwirkungen von Nano-Partikeln. Droht ein neues Desaster wie einst bei Asbest?

Die Zeiten, in denen die Nanotechnik neu und aufregend erschien, sind lange vorbei. Zu banal erscheinen Produkte wie verschleißfeste oder schmutzabweisende Beschichtungen, die sie bereits in irgendeiner Form nutzen. Die visionären Anwendungen hingegen – vor allem in Medizin und Elektronik – kommen nach wie vor nicht über Laborprototypen hinaus. In die Schlagzeilen gelangen nun Nanoteilchen, die Versuchstieren zu schaffen machen: So berichteten japanische Forscher kürzlich, dass in den Föten trächtiger Mäuse, denen sie Titandioxid-Nanoteilchen gespritzt hatten, die Hirnentwicklung gestört war.

Natürlich ist der Befund brisant, denn Titandioxid in Nanoform ist seit Jahren Bestandteil von schicken transparenten Sonnenschutzmitteln. Zugleich ist Titandioxid ein gutes Beispiel dafür, dass Stoffe, die in gröberer Form unproblematisch sind, in Nanoform plötzlich toxisch wirken können. Schon mutmaßen einige, Nanomaterialien könnten das neue Asbest sein. Doch die Sache ist komplizierter.

Tatsächlich gehören Titandioxid-Nano­partikel gerade in der Frage, ob sie durch die Haut in den Körper eindringen können, derzeit zu den bestuntersuchten Nano­materialien. Sowohl das EU-Projekt „Nanoderm“ als auch andere Forschungsarbeiten kamen allesamt zu dem Ergebnis, dass sie in gesunder Haut die oberste Hautschicht nicht durchdringen können. Nur für aufgeschürfte oder sonnenverbrannte Haut gibt es bislang noch keine eindeutigen Erkenntnisse. Für die Risikobewertung eines Stoffes genügen aber nicht einzelne Studien wie die der japanischen Forscher.

Untersucht werden muss zum einen die so genannte Exposition, also der Weg, auf dem ein Stoff in den Körper gelangt. Tatsächlich liegt der größte Teil der industriell eingesetzten Nanoteilchen in gebundener Form vor. Das bedeutet, dass sie in mehr oder weniger regelmäßigen Mustern in Trägerstoffen fest verankert sind, etwa in Beschichtungen, aber auch in Kunststoffen, die mit Kohlenstoffnanoröhren verstärkt sind. Aus denen können die Nanoteilchen von selbst nicht entweichen, allenfalls durch Abrieb oder am Ende ihres Produktlebens bei Zersetzung.

Die Größe macht das Gift

Von der Exposition hängen wiederum die konkreten Auswirkungen ab. „Ganz wichtig ist, dass man Nanoteilchen nicht ‚nackt’, sondern immer in einer bestimmten Umgebung betrachtet, beispielsweise im Zellmedium oder in der Lungenflüssigkeit“, betont der Bremer Verfahrenstechniker Lutz Mädler. Es ist nicht dasselbe, ob Nanoteilchen injiziert, verschluckt oder eingeatmet werden. Mädler hat kürzlich mit acht weiteren Forschern in Nature Materials die bislang gründlichste Bestandsaufnahme zu möglichen Bio-Nano-Wechselwirkungen veröffentlicht. Ergebnis: Nanoteilchen können die Chemie in der Zelle und auf ihrer Membran stören, dies hängt aber von vielen Faktoren wie Form, elektrischen Oberflächenladungen oder Molekülgruppen ab. Eine Faustregel, wann und wie ein Stoff in Nanoform toxisch ist, lässt sich daraus nicht ableiten.

Umweltorganisationen fordern, dass Nanomaterialien rechtlich wie neue Stoffe behandelt und eigens untersucht werden müssten. Dafür hatten sich bereits 2004 die Royal Society und die Royal Academy of Engineering in ihrem wegweisenden Nanotech-Report ausgesprochen. Praktisch ist dies jedoch eine Herkules-Aufgabe. Nicht nur werden die nötigen toxikologischen Standards und Testverfahren gerade erst erarbeitet. Eine Studie kam kürzlich auch zu dem Ergebnis, dass es mit den derzeitigen Möglichkeiten mindestens 34 Jahre dauern würde, alle heute bekannten Nanomaterialien zu überprüfen.

Die gegenwärtige Debatte über die Risiken von Nanomaterialien hält der Darmstädter Wissenschaftsphilosoph Alfred Nordmann allerdings für eine „problematische Verkürzung“, bei der andere gesellschaftliche Folgen der Nanotechnik aus dem Blick geraten. Es handelt sich ja gerade nicht um eine klar eingrenzbare Technologie vergleichbar der grünen Gentechnik, wie der fragwürdige Begriff „Nanotechnologie“ im Singular vermuten lässt. Vielmehr haben wir es mit einer Entwicklungsstufe der Technik zu tun, in der diverse Disziplinen Erkenntnisse aus Quantenphysik, Molekularbiologie und Chemie zu neuen Anwendungen kombinieren. Nanomaterialien sind hier nur ein Feld unter vielen.

Diese neuen Anwendungen können in Medizin, Elektronik oder Energietechnik sinnvoll sein – aber auch gesellschaftliche Probleme verschärfen. Dass zum Beispiel die Nanomedizin von Anfang an zu einer billigen Volksmedizin wird, ist angesichts der investierten Forschungsgelder und des Patentwettlaufs kaum zu erwarten. Eher dürfte sie den Trend zur Zweiklassenmedizin noch befördern, und dagegen hilft dann auch keine Regulierung von Nanomaterialien. Dasselbe gilt für Fortschritte in der Nanoelektronik: Sie könnte den weiteren Ausbau einer allgegenwärtigen Überwachungsinfrastruktur entscheidend unterstützen. Eine Debatte, die sich auf gesundheitliche und ökologische Nanorisiken ­beschränkt, blendet deshalb wichtige Zukunftsfragen zur Nanotechnik aus.

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