Kampf ums Überleben", "blutiger Daseinskampf", "Recht des Stärkeren" - diese und ähnliche Schlagwörter verbinden viele Menschen mit der Evolutionstheorie von Charles Darwin. Die Theorie gilt ihnen als kalt und inhuman. Vom Darwinismus zum Sozialdarwinismus ist es für sie nur ein kleiner gedanklicher Schritt. In den Köpfen vieler sind beide Prinzipien, das biologische und das gesellschaftliche, eng miteinander verknüpft und aufeinander bezogen. Ein Darwin-Apologet steht im Ruf, dem Raubtierkapitalismus zu huldigen.
Keine martialische Lehre
Das ist insofern befremdlich, als dass Darwin nie die Ansicht vertrat, dass nur die Starken eine Zukunft haben und die Schwachen auf der Strecke bleiben. Seine wissenschaftlichen Überzeugungen wollte er keinesfalls als düstere Lehre über den Menschen verstanden wissen. In seinen Schriften spricht er denn auch von "vergesellschafteten" Tieren, die sich nur durch Kooperation vor ihren Feinden schützen können. Darwin träumte weder von einer Gesellschaft, in der alle Menschen Brüder sind, noch wünschte er sich einen entfesselten Wettbewerb, in dem der Starke stets obsiegt. Seine Theorie ist deskriptiv gemeint, nicht normativ.
Wer die Evolutionstheorie für eine martialische Lehre hält, der irrt. Das Wettbewerbsprinzip, das darin beschrieben wird, ist dem ebenso schlichten wie unbestreitbaren Umstand geschuldet, dass zu viele Individuen um zu wenige Ressourcen konkurrieren. Das ist nicht schön, aber es ist so. Doch diese Ausgangslage spielt keineswegs nur den physisch Starken in die Hand. "Die Annahme, dass im Wettbewerb ums Dasein jeweils der Stärkere gewinnt, ist schlicht und einfach ein Schwachsinn", meint der Evolutionsbiologe Franz M. Wuketits von der Universität Wien. Anders herum werde ein Schuh daraus: Kampfesmut sei meistens unnütz und führe regelmäßig zum Untergang eines Lebewesens oder einer Art. Taktische Raffinesse und defensive Verhaltensweisen wie Tarnen, Verstecken oder Weglaufen seien gewinnbringender als Angriff und offene Konfrontation. Durch natürliche Auslese haben sich im Lauf der Evolution bei Tieren wie dem Polarfuchs oder dem Schneehasen so genannte "Schutzanpassungen" ausgebildet. Bewegen sich diese Tiere nicht, dann heben sie sich kaum von ihrer natürlichen Umgebung ab. Dadurch sind sie für Feinde schwer sichtbar. Gleiches gilt für alle möglichen anderen Lebewesen. Exemplarisch sei hier nur der Plattfisch genannt, der seine Farbe in kurzer Zeit an den sandigen Untergrund anpasst, über dem er schwimmt. "Wo das Gesetz von Fressen und Gefressenwerden regiert, sind Tarnung, Täuschung, Lug und Trug unverzichtbare Lebensmaximen", schreibt der Anthropologe Volker Sommer in seinem Buch Lob der Lüge. Das alles sind Strategien der "Schwäche", nicht der Stärke. Verwandelt sich ein Insekt in ein "wandelndes Blatt", um von Räubern nicht erkannt zu werden, dann ist das sicherlich keine kraftmeierische Überlebensstrategie, sondern eine kluge Taktik, die sich evolutionär ausgebildet hat.
Insbesondere bei jenen Tieren, die viele natürliche Feinde haben und fortwährend damit rechnen müssen, aufgefressen zu werden, sind Demonstrationen von Stärke unsinnig. Am Beispiel des Gibbons, einer kleinen Affenart in Thailand, lässt sich illustrieren, warum "Feigheit" eine bessere Überlebensstrategie darstellt als "Tapferkeit". Leoparden, Greifvögel und Pythons trachten dem Gibbon nach dem Leben. Seine natürlichen Feinde sind so übermächtig, dass er nur überleben kann, indem er sich geschickt in Bäumen versteckt und mit seinen Artgenossen kooperiert. Sie warnen sich gegenseitig vor Gefahren. Ohne Verstecken und Kooperieren würde der Gibbon nicht lange im Diesseits weilen.
Körperliche Kraft, rohe Gewalt und animalischer Kampfeswille waren im Tierreich keine sinnvolle Überlebensstrategie - und sind es auch heute nicht. Wuketits zufolge sind es die Feigen und Listigen, die mit großer Wahrscheinlichkeit überleben, und nicht etwa die mutigen Draufgänger und Kraftprotze.
Die Individuen einer Art konkurrieren miteinander. Sie stehen im Wettkampf. Der Grund hierfür sind die knappen Nahrungsressourcen. Doch dieses Wetteifern um Nahrung darf man sich nicht als blutigen Kampf vorstellen, wie Darwin selbst meinte: "Mit Recht kann man sagen, dass zwei hundeartige Raubtiere in Zeiten des Mangels um Nahrung und Dasein miteinander kämpfen; aber man kann auch sagen, eine Pflanze kämpfe am Rande der Wüste mit der Dürre ums Dasein, obwohl man das ebenso gut anders ausdrücken könnte: sie hängt von der Feuchtigkeit ab."
Der Kampf ums Dasein, das legen Darwins Worte nahe, ist eine leere Floskel, die Menschen immer dann herbeizitieren, wenn es um gefährliche Tiere wie etwa Löwen geht. Dass sich beispielsweise auch Maulwürfe und Korallen in einem Wettkampf miteinander befinden, unterschlagen wir nur allzu gerne. Vom Überlebenskampf des Regenwurms spricht niemand. Da manche Tiere keine gefährlichen Zähne oder Angst einflößenden Hörner aufbieten können, glauben wir fälschlicherweise, sie seien keinem hartem Verdrängungswettbewerb ausgesetzt.
Auch Pflanzen kämpfen
Doch das ist nicht so. Sesshafte Tiere wie Muscheln und Pflanzen müssen viel härter um ihre Existenz "kämpfen" als Löwen oder Leoparden. "Von einer Pflanze", schreibt Darwin, "die jährlich tausende von Samenkörnern erzeugt, von denen aber im Durchschnitt nur eines zur Entwicklung kommt, lässt sich mit noch viel größerem Rechte sagen, sie kämpfe ums Dasein mit jenen Pflanzen ihrer oder anderer Art, die bereits den Boden bedecken."
Bleib so lange am Leben wie möglich - das ist die Richtschnur pflanzlichen und tierischen Handelns. Den allermeisten Tieren gelingt das, indem sie sich wegducken und jedem direkten Kräftemessen aus dem Weg gehen. Nach Ansicht von Wuketits lehre uns die Evolution deshalb, dass Feigheit die wichtigste Tugend sei. Die mutigen Draufgänger aber taugten nicht als Vorbild. Wir haben zu viele tote Helden, aber zu wenige lebende Feiglinge, meint er.
Doch das ist ein naturalistischer Fehlschluss: Nur weil sich defensive "Taktiken" wie Verstecken und Tarnen evolutionär herausgebildet haben, müssen wir uns noch lange nicht den vorm Fuchs davon rennenden Hasen zum Vorbild nehmen. Die Wahrheit ist: Die Lehre vom freien Markt lässt sich ebenso wenig mit Darwin legitimieren wie das Credo vom vermeintlichen Siegeszug der Feigen und Schwachen. Die Evolution ist weder gut noch schlecht. Bei Darwin lässt sich nicht nachschlagen, wie wir uns verhalten sollten. Alle normativen Schlussfolgerungen, die wir aus seinen Büchern ziehen, führen in die Irre. Die Tierwelt ist, wie sie ist. Die Menschenwelt nicht. Sie könnte auch anders sein. Doch wie das gelingen kann, steht nicht bei Darwin. Schade eigentlich.
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