Kartoffelen und spielsüchtige Witwen

Zwei Geschichten aus der toskanischen Provinz Piero Rossi steht hinter dem Tresen und schreibt in großen Buchstaben "Chiuso!" auf hellbraunes Packpapier. In Rot. Hält das Schild auf Armlänge vor ...

Piero Rossi steht hinter dem Tresen und schreibt in großen Buchstaben "Chiuso!" auf hellbraunes Packpapier. In Rot. Hält das Schild auf Armlänge vor Augen und umrahmt dann die roten Buchstaben mit schwarzem Rand. So ist seine Stimmung. Am Trauerrand. Denn ab morgen werden seine Frau Franca und er den kleinen Laden schließen, den sie seit Jahrzehnten betrieben haben. Besitzer waren sein Großvater, sein Vater, er - sein Sohn nicht mehr. Die Frauen - immer dabei. Ein echter italienischer Tante-Emma-Laden. Lebensmittel aller Art, Postkarten, Briefmarken, Bindfäden, Kerzen, Olivenöl aus dem Krug, Wein vom Fass. Die Telefonzelle mit dem Schriftzug SIP aus Vor-Telecom- und Vor-Handy-Zeiten steht noch zwischen den Spaghetti-Regalen. Von hier aus telefoniert kein Mensch mehr, hier wird niemand mehr angerufen. Der Laden in dem kleinen Dorf Rupecanina der Gemeinde Vicchio di Mugello, in dem der große Beato Angelico geboren wurde, läuft nicht mehr, seit vor fünf Jahren fünf Kilometer entfernt ein Super-COOP aufgemacht hat. In Italien setzt das Sterben der Tante-Emma-Läden erst jetzt ein, die Urbanisierung schreitet langsamer voran. Nun, nach der Jahrtausendwende und dem Euro-Preis-Schock, ist der Prozess in vollem Gange. Kunden fahren kilometerweit, um weniger zu bezahlen. "Erst dachten wir, dass uns der COOP nicht stören würde", sagt Piero, "es war ja nicht der erste Supermarkt in der Gegend! Aber es kamen immer weniger Kunden. Bei den Großen ist eben alles billiger! Sie haben bei ihren Lieferanten Kredit und bekommen als Massenabnehmer sowieso bessere Preise! Wir müssen sofort bezahlen aber bei uns wollen die Leute auch noch anschreiben lassen!" Und Franca sagt: "Die Leute fahren mit den Autos hin und kommen voll beladen zurück. Dreimal die Woche! Nur wenn sie was vergessen haben, holen sie schnell bei uns noch ein Brot. Eine sechs-köpfige Familie holt ein Brot in einer Woche!"

Franca, die immer ihre kleinen Scherze macht, begrüßt den deutschen Kunden und lobt ihn dafür, dass er für den Eiereinkauf einen Karton mitgebracht hat. "Willst Du quadratische oder lange Eier?" Und beim Verabschieden ruft sie ihm nach: "Pass mal auf, dass Deine langen Eier in der Tüte nicht kaputtgehen!"

Die Deutschen, die in der Gegend ihre Häuser haben, sind gute Kunden. Sie bringen Einkaufsbeutel und Eierkartons zum Einkaufen mit, geben die leeren Weinflaschen ab und fühlen sich wohl im Laden von Franca und Piero, typisch italienisch! Bestellen "zwei Espressi!" und registrieren überrascht, wenn Piero an Franca weitergibt: "Due cafè, vai!" Natürlich meint Piero Espresso, wenn er cafè sagt, was er wie kafhä ausspricht. Er kennt auch deutsche Worte. "Kartoffelen" sagt er. "Woher kennst Du denn gerade dieses Wort, Piero?" "Hier in unserem Haus, über unserem Laden, hier waren doch die deutschen Faschisten während des Krieges. In unserem Haus hatten sie ihre Kommandantur und von hier aus machten sie ihre Kontrollen an der Gotenlinie!"

Piero sagt nicht "die Deutschen", sondern er sagt "die deutschen Faschisten". Er zeigt, wo er als kleiner Junge hinter den Obstkisten schlief, während die Besatzer ihre Bestellungen machten, die sein Vater dann die Treppe hinauftrug. "Immer Kartoffelen!" sagt er, "jeden Tag Kartoffelen!"

Ein deutscher Soldat hatte einen Konserveneimer aus dem Laden verlangt, daran ein Holzbrett befestigt und darauf Drähte gespannt, ein Zupfinstrument. "Abends machte er Musik und sie tanzten mit ihren schweren Stiefeln über uns und sangen. Immer das Lied von Rosamunde, kennst Du das?", fragt Piero, und sofort ist die Melodie im Kopf und das Geräusch der Soldatenstiefel und die brüllenden Männerstimmen, Gesang simulierend, und man denkt, man sollte die Rechnungen bezahlen, die die bestimmt nicht bezahlt haben. "Doch", sagt Piero Rossi, "mein Vater hat sie ihnen jede Woche präsentiert und sie haben bezahlt." Piero ist sicher, dass sie das gemacht haben, weil sein Vater ihnen das selbstverständlich abverlangte, aber er fügt noch hinzu: "Die Schweinereien haben sie woanders gemacht, wo sie schliefen und aßen, wollten sie wohl ihre Ruhe haben."

Francas und Pieros Sohn Pierino ist ausgewandert. Dort, wo alle italienischen Paare ihre Flitterwochen verbringen wollen, in Cancun in Mexiko, hat er eine Mexikanerin geheiratet und kommt nicht wieder. "Er macht die beste Pizza von Cancun!" sagt Franca, die mit Piero den figlio natürlich schon besucht hat und fügt augenzwinkernd hinzu: "weil er dort der einzige Pizzabäcker ist!"

Am letzten Tag verkauft Piero auch die Ladeneinrichtung. Die schöne Vitrine, die nach Brot riecht, hat sich die Kusine aus Florenz reservieren lassen. Aus der Schublade nimmt Piero das Anschreibebuch. Auch am letzten Tag stehen noch Posten offen. Selbst aus Lire-Zeiten. Und da steht unter vielen italienischen "A chiodi"-Kunden auch eine deutsche Ruth aus Berlin. Zwei Millionen Lire, seit Jahren nicht bezahlt! "Vergiss es", sagt Piero, "sie war alkoholkrank, ich werde es vergessen!" - und streicht Ruth und diese offene Rechnung.



"Diese Angela Merkel", fragt Rosella und klappert in ihrer kleinen Küche mit den Töpfen, "ist die bei Euch in Deutschland die zukünftige Berluscona?" So jedenfalls wurde sie in der italienischen Presse tituliert, als sie auf Stippvisite in Rom war: "La Berluscona di Germania." Rosella hat kein Verständnis dafür, in welchem Aufzug Berlusconi die Deutsche in seinem Palazzo Grazioli empfangen hat. "Sie kommt zu ihm nach Hause und er begrüsst sie im Jogging-Anzug?!" Das lässt Rosella keine Ruhe und sie fragt sich, wieso Frau Merkel sich das hat gefallen lassen. Ihre Einschätzung von Menschen bezieht sie direkt aus deren Verhalten. Wenn das nicht stimmt, kann die Politik nicht gut sein. Sie ist informiert, ihr Fernsehgerät ist eingeschaltet, zumindest hört sie alle Nachrichten. In ihrer kleinen Küche kann sie nicht immer auf den Bildschirm schauen. Die Küchenarbeit muss schnell von der Hand gehen, dafür steht auch das Gerät zu hoch, gleich neben der gelblich verfärbten runden Pappscheibe mit der Madonna. Dass Berlusconi, für den sie nichts übrig hat, mit dem Empfang im Jogging-Anzug sein lockeres freundschaftliches Verhältnis zu der Politikerin demonstrieren wollte, glaubt sie nicht. Sie findet es einfach ungehörig und jedes Mal, wenn die deutsche Nachbarin in ihre Küche kommt, macht sie sich laut Gedanken über seine Gründe: "Sie muß Witwe sein, nur dann kann er sich das erlauben!"

Rosella selbst ist seit fünf Jahren Witwe, damals war sie 62. Ihr Mann, Köhler, Straßenarbeiter und schwerer Kettenraucher, starb an Krebs. Sie weiss, dass das Rauchen sein Tod war und Rosella hat die Zigaretten verflucht und geschrieen und geweint, als die Ärzte bei ihrem Antonio Lungenkrebs entdeckten. Und doch hat sie selbst ihm die Zigaretten sogar noch ins Krankenhaus gebracht, wo er heimlich rauchte, am offenen Fenster. "Ein Süchtiger", sagt sie, "was willst Du mit einem Süchtigen machen?"

Als Witwe in der italienischen Gesellschaft macht sie die Erfahrung, dass sie nur wenig zählt. Jedenfalls nicht so viel wie eine Frau, die einen lebendigen Ehemann vorweisen kann. Sie fühlt sich entmündigt. Das fing damit an, dass ihr Sohn von einem Tag zum anderen der Bestimmer über all ihre Angelegenheiten wurde. Sie traut sich nicht, etwas zu tun, ohne ihn zu fragen. Ob sie in ihrem Häuschen wohnen bleibt oder zu ihm zieht, ob sie den Maronenwald verpachtet, die Kaninchen verkauft oder die Hühner behält, über die entscheidenden Fragen ihres Lebens lässt sie Claudio entscheiden. "Mio figlio!"

Figlio Claudio wohnt mit Frau und zwei Kindern keine 30 Kilometer entfernt, wie die meisten italienischen Familien der zweiten Generation. Da kann man täglich mal schnell nachsehen, was Mama macht. Sonntagmittag wird bei ihr gegessen, aber am Weihnachtstag ist Mama schon ab morgens bei der jungen Familie. Und der Figlio fährt sie zurück in ihr Dorf oben am Berg, in dem es keine Bahn und keine Busse gibt. Sie hat keinen Führerschein. Der Fiat 500 von Antonio steht noch im Holzverschlag. Abgedeckt. Seit fünf Jahren.

Rosella holt am Monatsanfang 600 Euro bei der Post ab. Lange Schlangen stehen da um Rente an, viele Rentner, aber viel mehr Witwen von Rentnern. Sie selbst hat in ihrem Leben auch eine eigene kleine Rente erarbeitet in der Zeit, als sie Hausmädchen war. Vom Postschalter kommt sie vergnügt zurück, da wird gelacht über den neuesten Klatsch und Tratsch, da werden Erfahrungen ausgetauscht, da lässt sich das eigene Leben mal wieder relativieren im Licht neuer Erkenntnisse. "Kannst Du Dir das vorstellen?" fragt sie in ihrer kleinen Küche und breitet den zu einer hauchdünnen Decke ausgerollten Pasta-Teig, die Sfoglia, mit Schwung über der hölzernen Brotkommode aus. "Kannst Du Dir das vorstellen, Valeria und Anna haben ihr ganzes Geld verloren! Beim Kartenspielen! Nächtelang spielen sie, nächtelang!" Valeria und Anna sind Witwen wie Rosella. Und es ist nichts Besonderes, dass sie nächtelang Karten spielen, um Geld natürlich. Das ist die heimliche Leidenschaft in der italienischen Provinz, Glücksspiel um Geld. Es sind nicht nur die Männer, die Haus und Hof verspielen, auch die Frauen, und besonders die Witwen, hat diese Spielsucht ergriffen. In kleinen Privatzirkeln zocken sie sich die Seele aus dem Leib. Ob Bingo, SuperEnaLotto, nächtliches Kartenspiel, die ganze Palette von erlaubten bis verbotenen Glücksspielen nährt den Traum vom großen Geld und heizt die Spielsucht an.

Rosella selbst ist sich nicht sicher, ob sie widerstehen könnte. Hatte sie nicht beim letzten Bingo auf dem Marktplatz in Vicchio schon zu viele Karten gekauft? Und doch nichts gewonnen! Aber was würde sie machen mit einem Gewinn? Kurze Konzentration und Stille - sie rollt das Rädchen zum Ausschneiden der Tortelli-Ecken energisch über die hauchdünne Teigdecke, die so fein ist wie Samt und Seide - rauf und runter schnurrt es. Dann bremst Rosella abrupt ab und verkündet mit Bestimmtheit: "Ich würde auf jeden Fall eine Platte aus weißem Carrara-Marmor für Antonios Grab kaufen!"

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