Der Mann im Kinde

Asyl Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge haben es besonders schwer. Der Fall des 16-jährigen Amir aus Ägypten

Amir (Name von der Redaktion geändert) ist eigentlich ein Jugendlicher wie andere auch. Aber der 16-Jährige ist aus Ägypten geflohen, er hat eine Odyssee hinter sich. Zehn Tage saß Amir in verschiedenen Hamburger Haftzellen: zuerst bei der Polizei, dann im Untersuchungsgefängnis, später in der Jugendhaftanstalt Hahnöfersand, einer Elbinsel vor den Toren der Hansestadt.

Amir hat weder gestohlen noch jemanden geschlagen. Er kam in Haft, weil er keine gültigen Papiere bei sich hatte. Während der Zeit in den Zellen wusste Amir nicht, wo er war, wo er als nächstes hingebracht werden würde. Er sah keinen Anwalt, bekam zu wenig zu essen und zu trinken. Amir lebte in ständiger Angst, abgeschoben zu werden.

Dabei hatte Hamburgs CDU-Innensenator Christoph Ahlhaus noch Anfang März verkündet, die Abschiebehaft für Kinder und Jugendliche auszusetzen – solange sie nicht straffällig geworden seien. Auslöser dieser Ankündigung war der Selbstmord des jungen Georgiers David M. Auch der hatte niemanden bestohlen oder eine andere Straftat begangen. David M. war selbst zur Polizei gegangen, er wollte Asyl – und starb in Abschiebehaft. Er hat sich mit einem Bettlaken erhängt.

„Deutsche Besonderheit“

Der tragische Tod des jungen Georgiers hatte im Frühjahr eine lange Debatte ausgelöst. Über den Umgang mit Asylsuchenden, vor allem mit Kindern und Jugendlichen. Doch Amir blieb erst einmal weiter in Haft. Als er schließlich aus dem Gefängnis entlassen wurde, erhielt er die Auflage, sich in der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung zu melden. Erst fünf Tage später wurde er von dort dem Kinder- und Jugendnotdienst „zugeführt“, wie es die Ausländerbehörde nennt.

Amir ist ein minderjähriger unbegleiteter Flüchtling. In „Deutschland existiert im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine Besonderheit hinsichtlich des Umgangs“ mit ihnen, heißt es in einem Papier des zuständigen Bundesamtes lapidar. Zwar hat auch Deutschland 1992 die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet. Lange Zeit galt aber ein Vorbehalt. Die damalige schwarz-gelbe Koalition hatte darauf bestanden, dass die Asyl- und Ausländergesetze Vorrang vor Kinderrechten haben. Im Klartext: Hierzulande gelten bereits 16- und 17-Jährige Flüchtlinge als erwachsen. Im Asylverfahren sind sie auf sich allein gestellt. Ohne einen Vormund. Oft ohne einen Anwalt. „Asylmündig“ heißt das in der Amtssprache.

Anfang Mai hat die Bundesregierung beschlossen, den Vorbehalt zur UN-Kinderrechtskonvention zurückzunehmen. Heiko Kauffmann von Pro Asyl hofft nun, „dass eine schier unendliche Geschichte politischen Versagens, der Verletzung der Fürsorgepflichten und internationalen Rechts sowie nicht eingelöster Versprechen beendet wird“. Der Diplompädagoge nennt es „ein großes Signal, dass die Koalition, die uns den Vorbehalt eingebrockt hat, ihn nun zurücknimmt“. Bis auch Amir etwas davon hat, müsste jedoch noch viel geschehen. Solange bleiben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge weiter „die Hauptleidtragenden einer fehlgeleiteten deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik“, wie Kauffmann es nennt.

Drastische Zunahme

Das zeigt sich auch an der Zahl der Asylanträge unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Waren es 2008 noch 763, zählte man im vergangenen Jahr bereits über 1.300. Vor allem unter 16- und 17-Jährigen stieg die Zahl drastisch an. Hauptherkunftsländer sind Afghanistan und der Irak, Vietnam, Guinea und Äthiopien.

„Es gibt handfeste Fluchtgründe für Jugendliche“, sagt Niels Espenhorst. Er ist Projektleiter beim Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge. Der Verein geht davon aus, dass 2009 mindestens 2.850 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge von Jugendämtern versorgt wurden. Diese Zahl, sagt Espenhorst, markiere das untere Ende des Möglichen. Denn verlässliche Angaben existierten nicht, da weder Landesjugendämter noch Ausländerbehörden die Daten zentral erfassten.

Unbegleitete Minderjährige fliehen vor Kriegen und Kinderarbeit, Krisen und Konflikten, politischer Verfolgung, Zwangsheirat und Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten, Genitalverstümmelung, Unruhen, Naturkatastrophen und Armut. Und sie suchen Schutz. Eigentlich ist das Jugendamt dazu verpflichtet, Kinder und Jugendliche in Obhut zu nehmen, die unbegleitet nach Deutschland einreisen. So sieht es zumindest das Sozialgesetzbuch vor. Im so genannten Clearingverfahren sollen dann ihre Situation und Perspektiven geklärt werden.

Ständige Überreiztheit

Doch die Praxis sieht anders aus. Je nachdem, wo die jungen Flüchtlinge hinkommen. „Ganz schlecht“ ist es zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, sagt Espenhorst. Dort existiere „keine Vorstellung über die Bedürfnisse“ der Betroffenen. Die Aufnahmesituation sei schlicht „katastrophal“. Hessen gilt hingegen als „nicht so übel“. Dort gebe es immerhin ein funktionierendes Aufnahmesystem und Clearinghäuser. Zudem sei das Jugendamt zuständig und nicht die Ausländerbehörde. In Hamburg wiederum müssen alle Minderjährigen zuerst einmal zur Ausländerbehörde. Und nur wenn sie dort als Minderjährige akzeptiert werden, nimmt sie das Jugendamt in Obhut, berichtet Hermann Hardt vom dortigen Flüchtlingsrat.

Espenhorst sieht darin eine bundesweite Tendenz: „Ordnungsbehörden erklären sich für zuständig und die Sozialbehörden erklären sich nicht für zuständig.“ Ein gravierender Unterschied für die Betroffenen. Es kann entscheidend sein, ob das Jugendamt darüber bestimmt, wie es mit den jugendlichen Asylsuchenden weitergeht – oder die Ausländerbehörden. Dann greife oft genug eine „ausländerrechtlich motivierte Selektion“, so Espenhorst.

Ohnehin brechen für die Jugendlichen schwere Zeiten an. In Sammelunterkünften müssen sie sich allein durchschlagen und ihr Zimmer mit fremden Erwachsenen teilen. Und auch dort, wo es für sie einen eigenen Trakt gibt, kommen sie kaum zur Ruhe. Die Jugendlichen seien „einem Zustand ständiger Überreizheit und Übererregung ausgesetzt. Gefühle wie Unsicherheit, Angst, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein sind ständig präsent“, heißt es in einem aktuellen Bericht des Bundesfachverbandes über die Zustände in München.

Ankommen mit Schikanen

Niels Espenhorst findet klare Worte: „Die Frage lautet ja, ob die Jugendlichen angemessen und gut in Obhut genommen werden und nicht, ob sie in Obhut genommen werden. Uns geht es um den Schutz der Jugendlichen. Um eine Unterbringung nach Jugendhilfestandards und darum, dass sie ankommen können.“

Es ist oft genug ein Ankommen mit Schikanen. In Hamburg sind im vergangenen Jahr 402 minderjährige Flüchtlinge eingereist sind. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde für volljährig erklärt. Nur wer mindestens 18 Jahre als ist, darf in andere Bundesländer umverteilt und leichter abgeschoben werden. Die Verfahren zur Altersfeststellung sind seit Jahren in der Kritik – die zwangsweise medizinische Untersuchung, das Röntgen der Handwurzelknochen. Das Hamburger Verwaltungsgericht hat die Methode bereits für unzulässig erklärt. Der Deutsche Ärztetag beschloss vor zwei Jahren, dass die Feststellung des Alters von Ausländern mit dem Berufsrecht nicht vereinbar sei. In der Rechtsmedizin des Uni-Krankenhauses Eppendorf werden die Asylsuchenden trotzdem weiter taxiert. Manchmal per Inaugenscheinnahmen. Dafür existieren nicht einmal allgemein anerkannte Kriterien.

Strafanzeige gestellt

Auch Amir wurde begutachtet. Der Arzt bestätigte ihm, er sei erst 16 – und nicht schon älter, wie die Ausländerbehörde behauptete. Eigentlich hätte er sofort in Obhut genommen werden müssen – doch für Amir begann eine erniedrigende Odyssee durch Hamburgs Gefängnisse.

Amirs Anwältin Sigrid Töpfer hat jetzt Strafanzeige erstattet: wegen Nötigung, Freiheitsberaubung und Körperverletzung. Gegen den Innensenator, den Justizsenator, die Ausländerbehörde und andere Stellen in der Hansestadt. Sie spricht von „offensichtlich systemischen Rechtsverstößen“, und davon, dass es vorgesetzte Stellen gibt, die sich dafür zu verantworten haben. Für die Asylrechtsanwältin geht es nicht nur um Amir, sondern um ein viel weiter reichendes Problem.

Töpfer nennt die Toten an den EU-Außengrenzen, die in Abschiebehaft gestorbenen, jene, die ihr Leben in Flüchtlingsunterkünften ließen. Selbst in der „friedlichen“ Nachkriegsperiode des Kontinents, sagt sie, gelten elementare Rechte für einige nicht. Für Sigrid Töpfer ist es ein „Ausdruck des bösen Zustandes der Republik und Europas“. Für Amir ist es das Leben.

Worte und Taten

Die Europäische Union will Kindern, die ohne Begleitung als Flüchtlinge in die EU kommen, besser schütze. Darauf haben sich vor einer Woche zumindest die Innenminister in Luxemburg verständigt: Kinder sollen einen Rechtsbeistand bekommen und nach spätestens sechs Monaten erfahren, ob sie ein Aufenthaltsrecht erhalten, hieß es nach einem Treffen der Ressortchefs.

Genaue Angaben, wie viele unbegleitete Minderjährige nach Europa kommen, gibt es nicht. Rund 11.000 von ihnen haben nach Angaben der EU im vergangenen Jahr um Asyl gebeten 13 Prozent mehr als im Jahr davor. Experten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegt.

Der Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen war auch Thema der jüngsten Konferenz der Innenminister der deutschen Bundesländer Anfang Mai in . Angesichts der kurz zuvor erfolgten Rücknahme der Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention durch die Bundesregierung, hatte das UN- Flüchtlingskommissariat den Gesetzgeber aufgefordert, nun weitere Schritte zu unternehmen. Das Verfahrensalter im Asylverfahren muss auf 18 Jahre angehoben werden, das Kindeswohl zudem als leitendes Prinzip im Aufenthalts- sowie im Asylverfahrens- und Asylbewerberleistungsgesetz ausdrücklich aufgenommen werden, so der UNHCR-Vertreter für Deutschland und Österreich, Michael Lindenbauer. Zudem sollte die bundesweite Praxis in Sachen Obhut und Vormund vereinheitlicht werden.

Medienberichten zufolge könnte eine Verbesserung für die Betroffenen jedoch abermals unterbleiben. Die Entscheidung ziehe nicht zwingend gesetzliche Änderungen nach sich, hieß es aus dem Justizministerium. Und: Änderungen im Asylverfahrensrecht seien nicht zu erwarten.

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