Einige aus der Familie sitzen auf der Erde, den Rücken gegen ein altes, abgewetztes Sofa gelehnt - darauf sitzt nur die alte Frau, so präsent, so abwesend, als sei etwas Unglaubliches in ihr aufgewachsen und habe sie für immer erstarren lassen. Die Blitzlichter der Fotografen wecken sie nicht. Die Frau könnte wissen, was zu sagen wäre, wenn es Worte dafür gäbe, was geschehen ist. Sie hat die Selbstzerstörung ihrer Tochter in sich aufgenommen und kann nichts davon preisgeben. Nur die Erinnerungen und ein Foto sind geblieben.
Die Füße der alten Frau blicken grau, nackt und groß unter einer verwaschenen Decke hervor. Auf ihrem Schoß hält sie das Bild der Tochter den Fotographen entgegen. Seht her, das ist sie, die Kamikaze-Frau, die vor zwei Tagen einen Gürtel mit Sprengstoff um ihren Leib bis nach Jerusalem trug. Ringsherum hat sich die Familie versammelt, um Wasfiyeh, die Mutter der Toten, zu trösten. Aber die Trauer kommt nicht an gegen das Bild der Toten. Wafa Idris ist viel zu gegenwärtig in ihrem schwarzen Talar, um betrauert zu werden.
Die Ermittlung
Zunächst hält die israelische Polizei die Attentäterin für eine Studentin aus Nablus - es sei der erste Fall dieser Art seit Beginn der Intifada, heißt es. Schließlich werden die Informationen präziser. Man kann die Tote zwar nicht identifizieren, ermittelt aber, dass sie aus dem Flüchtlingslager Irtas bei Ramallah kam. In diesem Stadium der Untersuchung erhält die Kamikaze-Frau einen Namen, bald auch eine politische Identität. Sie gehöre zu den Märtyrern der al-Aqsa-Brigaden, einem bewaffneter Flügel der Fatah, sind die Israelis überzeugt, Wafa Idris sei nicht religiös gewesen. Was nicht in den israelischen Zeitungen steht, sie lebte mit ihrer kranken Mutter Wasfiyeh in einem jener Quartiere Ramallahs, in denen das Dickicht der Häuser so eng und wild wuchert, dass dazwischen nur schmale Gassen bleiben, bedeckt von Müll, Unrat und alledem, was 50 Jahre Flüchtlingsexistenz an Verfall bereit halten.
Was ebenfalls ausgeblendet bleibt: Wafa Idris lebte seit vier Jahren allein mit ihrer Mutter. Nach den Angaben einer Freundin aus Ramallah war sie von ihrem Mann verlassen worden, nachdem die junge Frau ihr erstes Kind bei der Geburt verloren hatte und danach nicht mehr gebären konnte. Sie hatte drei Brüder, die älter waren als sie und über das gesamte Westjordanland verteilt lebten. Massoud, der Älteste, war nach mehrjähriger Haft in Israel, Kommunalpolitiker der Fatah, der auch Wafa Idris angehört haben soll.
Das Foto
Wafa Idris meldet sich Anfang November 2000, kurz nach Beginn der zweiten Intifada, als freiwillige Helferin beim Palästinensischen Roten Kreuz, das sie als Krankenschwester ausbilden lässt. Mit der Übergabe des Diploms zum Abschluss ihres Lehrgangs entsteht das Foto - Wafa im schwarzen Talar mit Medaille und Urkunde. Weshalb sie in diesem Aufzug fotografiert wird, kann nur vermutet werden. Vielleicht steht die Ausstattung im Fotoatelier zur Verfügung. Wafa kann sich die Sachen auch selbst besorgt haben, um zu zeigen, wie sie sich selbst sah. Oder gesehen werden wollte. Das Foto nährt die anfängliche Vermutung, es habe sich bei der Attentäterin von Jerusalem um eine Studentin aus Nablus gehandelt. Es ist dieses Bild, das Wasfiyeh, die Mutter, auf dem Schoß hält, als die Pressefotografen der Familie beim Trauern zusehen.
Die Katastrophe
Der Ort, an dem Wafa als Krankenschwester ab September letzten Jahres eingesetzt wird, ist die Rot-Kreuz-Station im Ort el-Balonan nördlich von Ramallah, wo die Zusammenstöße zwischen Palästinensern und israelischen Soldaten äußerst heftig sind. Jeden Tag sieht Wafa Verletzte in erschreckender Zahl - oft auch Tote. Ihre Einsamkeit, vor allem aber die Not, gegen die sie täglich nur wenig tun kann, so glaubt die Familie, seien die Ursache dafür, dass es zum 27. Januar kommt, als sie "handelte, wie sie glaubte, handeln zu müssen".
Die Frage bleibt - und dürfte kaum je beantwortet werden - wollte sie mit der Bombe am Leib sterben oder den Sprengkörper irgendwo in Jerusalem platzieren und sich vor der Detonation in Sicherheit bringen? Handelte sie wirklich im Auftrag der al-Aqsa-Brigaden, wie diese noch am Tag des Anschlags behaupteten, um sich medialer Aufmerksamkeit sicher zu sein? Oder war sie allein? Ging sie nach Jerusalem, um der Katastrophe des Irrsinns und ihrer Hilflosigkeit zu entgehen?
Die Familie beteuert, nichts zu wissen.
Der Wendepunkt
Auch wenn kaum jemand darüber schreibt, der Tod von Wafa Idris ist ein Wendepunkt dieser Intifada. Die junge Frau aus Ramallah bricht mit dem Klischee, die palästinensischen Märtyrer seien ausnahmslos furchtlose Männer, die sich gründlich vorbereiteten und aus gläubigem Fanatismus ihre Mission erfüllten, um nach der Tat von 70 Jungfrauen als Helden auf einem steilen Bergplateau erwartet zu werden, das den Himmel berührt.
Wafa ist, Wafa war, eine junge Palästinenserin, wie man sie häufig auf den Straßen von Ramallah, Nablus oder Bethlehem trifft und ihnen nie die Hoffnungslosigkeit ansieht, an der sie zerbrechen.
Das Leck
Sonia, eine 27-jährige Juristin, die ebenfalls aus Ramallah stammt, hat die Sonnenbrille auf die Stirn geschoben, sie trägt Jeans und hohe Stiefel: "Ich habe eine gute Arbeit, ich habe Geld und eine Familie, aber in meinem Inneren dehnt sich ein großes schmerzendes Leck, in dem alles verschwindet, weil Arbeit, Geld und Familie pure Selbstverleugnung sind. Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, weiß ich, dass mir ein neuer Tag der Demütigung bevorsteht. Irgendwann kommt der Augenblick, der mich endgültig Abschied nehmen lässt, weil ich mir sage, es reicht, es ist vorbei, dein Leben habe keinen Sinn mehr - und ich werde mich in die Luft sprengen, wie dieses Mädchen in Jerusalem ..."
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