Manfred Lenz sitzt in Untersuchungshaft. "Ungesetzlicher Grenzübertritt in schwerem Fall" und "Aufnahme von staatsfeindlichen Verbindungen" werden ihm zur Last gelegt. Seine Frau Hannah teilt das gleiche Schicksal. Sie wartet in irgendeinem anderen Gefängnis auf ihren Prozess. Die beiden kleinen Kinder hat man in ein Heim gesteckt. Wie es ihnen geht, können die Eltern nur vermuten. Jeder direkte Kontakt ist ihnen untersagt.
Sind Manfred und Hannah Lenz wirklich die schlimmen Staatsfeinde, als die man sie behandelt? Sie haben sich in der DDR nichts zu Schulden kommen lassen. Außer dass sie eines Tages im Jahr 1972, nach langem, qualvollem Abwägen des Für und Wider, den Entschluss fassten, diesen Staat zu verlassen. Da dies legal nicht möglich war, mussten s
mussten sie einen anderen Weg wählen. Hannahs resolute Schwester aus Frankfurt am Main besorgte ihnen falsche BRD-Pässe. Mit denen sollten sie während eines Bulgarien-Urlaubs in die Türkei und weiter nach Westdeutschland gelangen. Der Plan scheiterte. Schon mitten in Bulgarien wurde die Familie aus heiterem Himmel verhaftet. Ein Rätsel, wie die Stasi dahinter gekommen war.Klaus Kordons Roman wechselt zwischen zwei Ebenen hin und her, die immer näher zusammenrücken. Da ist einmal der zermürbende Gefängnisalltag, den Lenz durchstehen muss - Verhöre, Schikanen, gewährte und wieder entzogene Vergünstigungen, Einzelhaft und Gruppenzelle, wilde Gerüchte und gegenseitige Verdächtigungen unter den Häftlingen, das neurotisierende Wechselbad zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Und da ist zum anderen, in großen Rückblenden erzählt, die Lebensgeschichte des "Manne" Lenz, von der frühesten Kindheit bis zu den letzten Wochen und Tagen, die dem Fluchtdebakel unmittelbar voraus gingen.Der Romanheld, wie Kordon selbst 1943 geboren, wächst im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg heran. Sein Vater ist als Soldat gefallen, die Mutter betreibt eine Eckkneipe mit Namen "Zum ersten Ehestandsschoppen" (das Standesamt liegt in der Nähe), wo sich täglich ein buntes, bodenständiges Völkchen tummelt, aus dessen Stammtischdebatten sich der kleine Manni seine ersten Reime auf die Welt zu machen versucht. Später stromert er durch Berlin, schaut sich im Westteil der Stadt Kinofilme an, gerät am 17. Juni 1953 in dramatische Straßenszenen, macht sich seine eigenen Gedanken über Kalte-Kriegs-Propaganda und Wirklichkeit hüben wie drüben."Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist", prangt eines Tages in großen Lettern im Klassenraum. Woher man denn wisse, dass diese Lehre wahr sei, will der Viertklässler wissen und erregt damit prompt den Unmut der Lehrerin. Er sei ein "kleinbürgerliches Individuum", bekommt er bald zu hören. Daheim muss ihm sein großer Bruder erst einmal erklären, was das überhaupt sein soll, ein solches "Indidum", nein: Individuum ...Die Episode erweist sich als symptomatisch. Immer wieder wird Manfred Lenz in den kommenden Jahren den Konformitätsdruck des preußischen Sozialismus zu spüren bekommen: im strengen Kinderheim, in das er nach dem frühen Tod der Mutter einzieht, in einer Werksversammlung kurz nach dem 13. August 1961 ("Wir wollen unsere Menschen schützen!" ruft der Kaderleiter), beim stumpfsinnigen Drill und phrasenhaften Politunterricht in der Volksarmee, oder später bei einer Auslandsgeschäftsreise, wo sich Lenz, längst ein erwachsener Mensch, unbotmäßig von der Delegationsherde entfernt, was nicht ohne Folgen bleibt.Kordon trägt das Motiv der Gängelung und ideologischen Bigotterie nicht mutwillig dick auf. Das Leben, das er erzählt, ist nicht Grau in Grau, es hat viele Seiten, beispielsweise kommt Lenz beruflich durchaus gut voran. Seine junge Familie leidet nicht Not. Es begegnen ihm auch hellwache Lehrer und nachdenkliche Funktionäre. Und doch sind da immer wieder die quälenden Situationen, wo sich sein Gewissen meldet, dieses "Krokodil im Nacken", und fragt: Wie viele faule Kompromisse willst du noch machen? Welche Schweinereien willst du noch schulterzuckend decken? Willst du dein Leben lang "toter Mann" spielen?Am Ende bedarf es nur noch einiger Tropfen, die das Fass zum Überlaufen bringen und Lenz aus seiner Lähmung reißen. Es ist kein naiver Kinderglaube an den "goldenen Westen", es ist vielmehr jenes moralisch-ethische "Krokodil", das ihn in Bewegung setzt. Was er dann in der Haft erlebt, kann Lenz vollends nur als bittere Bestätigung nehmen, dass dies nicht mehr sein Staat ist. Am Ende verkürzt ein diskreter Deal zwischen BRD und DDR, vermittelt über den Rechtsanwalt Dr. Vogel, seine und Hannahs Leidenszeit: Menschen werden gegen Devisen ausgetauscht.Kordons Roman wirkt über weite Strecken sehr authentisch. Entschiedene Straffung und der Verzicht auf entbehrliche Details hätten dieser Authentizität allerdings keinen Abbruch, dafür dem Buch literarisch gut getan. Erschöpfende Ausführlichkeit erschöpft auch den Leser.Klaus Kordon: Krokodil im Nacken. Roman. Beltz Verlag, Weinheim 2002, 796 S., 19,90 EUR (ab 14)
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