Schon seit Beginn der neunziger Jahre orakelten die Weisen und Seher der internationalen Filmkultur, dass Bollywood-Filme, also das populäre Kino Indiens, Das Nächste Große Ding werden würden - ganz genau so, wie man in den Achtzigern das Hongkonger Kino auf breiter Basis entdeckt und langsam, wenn auch bloß partiell, in die Weltkinokultur eingebettet hatte. Mit Bollywood dauerte es dann allerdings doch länger: Die Widerstände beim West-Publikum gegen diese sehr eigene Form - dieser Mehrstunden-Mysterienspiel-Mix aus Melodram, Komödie, Tanz, Gesang und Gewalt - erwiesen sich als größer denn gedacht. Im Übrigen mindestens so groß wie die Probleme bei den Verhandlungen mit den indischen Produktionsfirmen, die das zunächst für ein viel zu aufwandsträchtiges Zusatzgeschäft hielten. So weit es sie interessierte, hatten sie den West-Markt ja schon seit langem für sich erschlossen.
Bollywood-Filme laufen nämlich schon seit vielen Jahren auch im westlichen Ausland vor ausverkauften Häusern - nur bekommt man das im Allgemeinen nicht mit; es schlägt sich auch nie in den Einspiel-Analysen nieder, da es sich dabei um veritable NRI (Non-Resident Indians)-Veranstaltungen handelt, die bloß sporadisch öffentlich, das heißt jenseits der Indien-Shops, angekündigt werden, und die Filme in der Regel dann auch nur ohne Untertitel in Hindi gezeigt werden.
Das System funktioniert in Deutschland immer gleich: Die Kopien kommen normalerweise aus London. Ein Entrepreneur, der sich im Idealfall einen deutschlandweiten Abspielring aufgebaut hat, erwirbt zum Beispiel für einen Monat die Rechte für die Auswertung einer Kopie eines brandaktuellen Bollywood-Films - der nach Möglichkeit noch nicht auf DVD oder Video erschienen ist - und reist damit durchs Land. Ist der Monat um, geht die Kopie zurück nach London und die Rechte verfallen. (In kleinerem Maßstab ähnelt das der aktuellen Praxis mit türkischen Filmen, die vor allem Warner Brothers seit ein paar Jahren für eine begrenzte Zeit, oft ohne große Ankündigungen, in die hiesigen Kinos bringt.)
Wenn sich in den vergangenen anderthalb bis zwei Jahren Bollywood-Filme recht kontinuierlich zu Kassenerfolgen in England und vereinzelt auch in den USA entwickelt haben - siehe etwa Yash Johars Kabhi khushi khabi gham / Sometimes Happy Sometimes Sad (2001) -, hat das allerdings nichts mehr mit diesen Abspielzirkeln zu tun. Das Publikum, das diese Filme zu Kassenschlagern macht, sind nicht die NRIs, sondern die Anderen: Wir, die vielleicht neugierigen, vielleicht bloß trendbewussten Cinephilen. Die ersten filmkulturellen Ehrungen ließen auch nicht lange auf sich warten: Ashutosh Gowarikers vierstündiges Cricket-Politmelodram Lagaan / Land Tax (der gerade bei uns in die Kinos gekommen ist) kam 2002 beim Oscar für den besten ausländischen Film immerhin bis in die Endrunde, während Sanjay Leela Bhansalis Film Devdas (2002) in Cannes im Wettbewerb lief, wenn auch feigerweise bloß außer Konkurrenz.
Wenn man jetzt von einer internationalen Entdeckung des Bollywood-Kinos spricht, offenbart sich damit aber auch wieder einmal die gnadenlose Dominanz und Arroganz der westlichen Filmkritik, der dazugehörigen Akademikerzirkel und ihrer selbstzentrierten Geschichtsschreibung, denn eigentlich sind die Produktionen aus Mumbai (Bombay) und Chennai (Madras) schon seit Dekaden ein Weltphänomen. In Süd-, West-, und Zentralasien, den Republiken der ehemaligen Sowjetunion sowie in weiten Teilen Afrikas gehören Bollywood-Filme zum populärkulturellen Alltag, der seine Spuren gut sichtbar in den einheimischen Produktionen hinterlässt. Das war im Übrigen beim Hongkong-Kino auch nicht anders; vermeintlich wurde eine hochentwickelte Filmindustrie entdeckt, die de facto längst weite Teile Ost- und Südostasiens sowie Afrikas beherrschte und dabei ganz eigene filmische Idiome entwickelt hatte.
Damit haben sich die Gemeinsamkeiten zwischen den Kult-Phänomenen Hongkong und Bollywood aber auch schon erschöpft. Als man sich in den siebziger Jahren durch das Martial Arts-Kino der Filmkultur Hongkongs näherte, war die Kronkolonie im Prinzip ein weißer Fleck auf der hiesigen Weltkinokarte - durch den Kommerz fand man dann auch zur Kunst. Indien hingegen ist schon seit den fünfziger Jahren durch Altmeister Satyajit Ray als Land mit filmkulturellen Werten vermerkt - der schnöde Bollywood-Kommerz brauchte einen da nicht zu interessieren. Und tat es dann ja auch lange nicht.
Im Hongkong-Kino gab es von Anfang an, passend zum kraftmeierisch-bubenhaften Stil der westlichen Filmkritik, auch das verbindende Moment der Gewaltfaszination, des Spektakels in Ekstase leidender Körper: hüben Django, drüben Bruce Lee. In Indien gab es dafür vorrangig singende, tanzende Menschen, selbst in den heftigsten Ein-Mann-setzt-sich-mit-aller-Gewalt-durch-Epen wie Zanjeer / The Chain (1973) von Prakash Mehra oder Deewar / The Wall (1975) von Yash Chopra. Bollywoods Macho-Kino hatte für Westler nie jene finstere, fundamentale Ernsthaftigkeit, die man bei vergleichbaren Arbeiten aus Hongkong fand. Man könnte auch sagen: Mit dem indischen Star Amitabh Bachchan bekam man die transzendentale Entschlossenheit eines Bruce Lee zeitgleich mit der akrobatischen Entschlacktheit eines Kung Fu-Komödianten wie Jackie Chan - man bekam also nicht die Gelegenheit, etwas ernst nehmen und erst dann darüber lachen zu können. Was die Probleme des Westlers mit Bollywood auf den Punkt bringt.
Erschwerend kam ein anderer Umstand hinzu: Als die westliche Filmkritik den Bollywood-Film hätte entdecken können, war sie zuerst allein mit der Suche nach Kunst zur Etablierung von Kino als Weltkunst beschäftigt und dann zu sehr mit Formalismen und Kategorisierungen zur Ordnung dieser Kunst, um der polymorphen Poesie dieses all unsere Ordnungssysteme sprengenden Kommerzkinos verfallen zu können. Dass nun Bollywood-Filme auch in unseren Breitengraden gewürdigt werden, zeigt wohl auch den wachsenden Einfluss weiblicher wie schwul-lesbischer filmkritisch-theoretischer Perspektiven, die oft unfertige, brüchige Formen propagieren, einhergehend mit der Inszenierung von Ambivalenzen, einer Dialektik von Realität und: Sehnsucht, wovor ja gerade das klassische Bollywood-Kino nur so strotzt. Die Tanz-und-Gesang-Nummern funktionieren zum Beispiel oft als Unterbewusstsein der Geschichten, und so wie der Bollywood-Film versucht, alle Gefühle zum Ausdruck zu bringen, alle Genres zu bedienen, so verästelt er sich auch in Exzessen von Sub- und Subsub-Plots, die an Victor Hugo gemahnen. Diese sind nicht nur als Metaebenen und Subtexte lesbar, sondern bedingen auch noch weitere Ebenen, ganz zu schweigen von seinem semi-ironischen Verhältnis zum Hollywood-Kino, das der Bollywood-Film mal ausschlachtet, mal parodiert, was weitere Metaebenen mit sich bringt.
Im Westen fand und findet man das einfach bloß flach, um nicht zu sagen platt - und flach im direkten Sinn ist es auch: so wie klassische indische Malerei flach ist, weil sie ohne Fluchtpunktperspektive funktioniert. Der Bollywood-Film ist eine ganz künstliche, sehr symbolische Welt, deren Feinheiten, Feinsinnigkeiten man hier normalerweise nicht kennt. Ein einfaches Beispiel ist die Frage, wann und wann nicht welche Figur einen Nachnamen, das heißt eine Kastenzugehörigkeit hat, und was das für die Verhältnisse zwischen den Figuren bedeutet. Wie aber der Vergleich mit der Malerei schon andeuten sollte, bietet Bollywood kein Spiegelbild Indiens - im handelsüblich realistischen Sinne -, sondern das Abbild eines Indien. Der Lyriker und Drehbuchautor Javed Akhtar bezeichnete das Bollywood-Kino einmal als Indiens "nächsten Nachbarn. Es ist eine eigene Welt, mit eigenen Traditionen und Symbolen, die diejenigen verstehen, die damit vertraut sind" - wieder also ein dialektisches Ineinander von Realität (die Kastenzugehörigkeit) und Sehnsucht (die Nachnamenslosigkeit).
Man kann das natürlich auch alles ganz postmodern verstehen - so wie man das extrem bewusste Spiel der Darsteller oder die oft extravaganten Ausstattungsdetails "campy" bis trashig finden kann. Doch damit kommt man wieder nicht weiter als bis zur Sorbonne. Die Tatsache, dass sich indische Intellektuelle nun in eben diesem Idiom ihrem Kino nähern, hat wiederum nur mit den oben schon angedeuteten filmakademischen Machtverhältnissen zu tun.
Wobei diese Kunst der kommentierenden Ambivalenz auch immer mehr verschwindet, in dem Maße, wie sich die Tanz-und-Gesang-Sequenzen zu häufen beginnen: Bedingt der Bollywood-Film klassischerweise fünf oder sechs solcher Nummern, so bietet etwa Sooraj Barjatyas Megahit aus den neunziger Jahren Hum aapke hain koun...! / What Am I to You? gleich vierzehn Stück - von denen keine mehr bietet als ein durchschnittliches Musikvideo.
Die Musikvideo-Kultur, überhaupt Musik, erweist sich bei genauerem Hinsehen als der Schlüssel für den rapiden Erfolg des Bollywood-Kinos im Westen. Nach dem Ende des Hollywood-Musicals in den späten Sechzigern war dieses "totale" Erzählen mit Tanz und Gesang aus der westlichen Popkultur weitestgehend verschwunden. Versuche der Wiederbelebung scheiterten kläglich. Musikvideos, gerade in ihren Langformen - Paradebeispiel: Martin Scorseses Bad (1987) -, machten diese Erzählweise wieder populär, auch wenn das in der aktuellen Filmproduktion jenseits des Schaffens von Baz Luhrman bislang keinen wirklichen Niederschlag fand.
In Großbritannien kam dazu noch der Einfluss einiger extrem populärer NRI-Techno-Musiker und -DJs, die ihre Mix´ gern um Bollywood-Klänge organisierten und so für ein nachhaltiges Interesse an der Musik sorgten, was dann, in einer seltenen kulturellen Konsequenz, zu einem Interesse an den Filmen selbst führte.
Es bleibt abzuwarten, wie sich das Phänomen Bollywood-im-Westen weiter entwickelt. Das Schlimmste, was passieren kann und wohl schon auf einigen Reißbrettern existiert, sind "Schlürfes"-Produktionen, die für alle Märkte taugen, Filme, die sich irgendwo zwischen Mira Nairs Halbheit Monsoon Wedding (2001) und oben schon erwähnter Plaisanterie Hum aapke hain koun...! einrichten. Das Beste, was passieren könnte, wäre hingegen, dass sich das Bollywood-Kino als autonome Form etabliert - was sich als weiterer, bitter nötiger Schlag gegen die westliche Filmkultur und ihre Diskurs-Hegemonie erweisen könnte.
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