Was bleibt von Waldeck? Ästhetisch nichts, befand Magnus Klaues in seiner Polemik über die CD-Dokumentation der Waldeck-Festivals in Freitag 26. Holger Böning widersprach in Freitag 28 Klaues Vorwurf, auf der Waldeck sei von den deutschen Konzentrationslagern geschwiegen worden. Nun unternimmt Olaf Schäfer den Versuch der Vermittlung.
Wenn man sich mit einem kulturellen Ereignis in der ersten Hälfte der sechziger Jahre beschäftigt, so muss man sich die restaurativen Elemente dieser Epoche vor Augen führen, die zu jener Zeit in voller Blüte standen und auch kulturell das Land dominierten. Keine 20 Jahre nach dem Ende der Nazidiktatur hatte die Mehrheit der Bevölkerung sich formal in der oktroyierten Demokratie eingerichtet. Große Teile der Funktionseliten, aber auch der Kulturschaffenden, konnten fast nahtlos an ihre Karrieren vor 1945 anknüpfen.
Die Analyse von Veröffentlichungen und Schulmusikbüchern aus jener Zeit belegt, dass das Ideal einer singenden Jugend, welches unter anderem aus der bündischen Jugendmusikbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts stammt, weiterhin galt. Zwar waren die politisch-ideologischen Lieder aus der Nazizeit aus den Liederbüchern entfernt worden. Die Wander-, Zelt- und Lagerfeuerromantik, welche von den Nazis in die Aktivitäten der Hitler-Jugend integriert worden war, blieb unbehelligt. Niemand fragte nach, warum man etwa im Frühtau zu Berge ziehen sollte, oder was die Zelte jenseits des Tales zu suchen hatten. Gerade weil erst ein paar Jahre zuvor Lieder gesungen worden waren, in denen das Judenblut vom Messer spritzte oder die Hakenkreuzfahne über den eigenen Tod stellte, sang und klampfte man arglos solche vordergründig harmlosen Lieder. Eine kritische Revision der Texte fand so wenig statt, wie musikalisch Innovationen aufgenommen wurden. Erst Theodor W. Adorno warf den Vertretern dieser Art von Jugendmusik vor, mit ihrer falschen romantischen Musik- und Gemeinschaftskultur regressiv den Prozess von Moderne und Aufklärung zu begleiten.
In diesem restaurativen Umfeld versuchten nun die Festivalmacher 1964 auf Burg Waldeck eine Art Gegenkultur zu schaffen. Dabei sah man sich durchaus auch in der Tradition der bündischen Bewegung, die man gewissermaßen fortschrittlich wenden wollte. Anregungen kamen zudem aus dem Ausland, und die Frage, warum die Deutschen nicht wie andere Völker eine lebendige Chanson- oder Volksliedkultur haben, war ein wichtiges Motiv, dieses Festival ins Leben zu rufen. Degenhardts Die alten Lieder brachte es auf den Punkt: "Wo sind eure Lieder,/Eure alten Lieder?/Fragen die aus andren Ländern,/wenn man um Kamine sitzt, ... Tot sind unsere Lieder/unsre alten Lieder. Lehrer haben sie zerbissen,/Kurzbehoste sie zerklampft, braune Horden totgeschrien,/Stiefel in den Dreck gestampft."
Der Typus des Gitarre spielenden Liedermachers war, ganz in der Tradition der bündischen Jugendbewegung, auf den ersten Festivals stark vertreten. Zu einer Zeit, als Beatles, Stones und andere sich anschickten, Weltkarrieren zu machen und eine Generation kulturell zu prägen, trafen sich ab 1964 wenige hundert Menschen - 1968 waren es schließlich 6.000 - auf einer abgelegenen Burg, um sich mit einer ästhetisch eher konservativen Musikform zu beschäftigen beziehungsweise sich an ausländische Vorbilder (Chanson, Protestsongs) anzulehnen. Auffällig ist, dass fast zeitgleich in der DDR sich eine ähnliche Szene bildete. Perry Friedman, der 1965 in Waldeck auftrat, war Mitinitiator eines so genannten Hootenanny-Clubs in Ost Berlin, aus dem sich schließlich der Oktoberklub und die FDJ-Singebewegung entwickelten.
Darüber hinaus steht das Festival in einem weiteren internationalen Zusammenhang. Unabgesprochen wurden das Volkslied und die volkstümlichen Neukompositionen von Liedermachern und Komponisten wie Mikis Theodorakis oder Viktor Jara in ihren jeweiligen Herkunftsländern sowie weltweit als wichtige politische Botschaften wahrgenommen. Das Schicksal vieler Musiker und Dichter jener Zeit bestand aus politischer Verfolgung, Ermordung und Exil.
Heute, wo es einen gut florierenden Markt an so genannter Weltmusik gibt und fast jedes Funkhaus eine Sendeschiene hat, auf der Folk- und Weltmusik ausgestrahlt wird, erschließt sich die politische Dimension, in der die Lieder, etwa von Theodorakis, gehörtwurden, nicht mehr. Umgekehrt ist festzuhalten, das die deutsche Folkloreszene auch in den sechziger und siebziger Jahren nur eine Nischenszene war. Bis heute bedient die Szene eine Minderheit mit kleinem Marktanteil, und selbst Festivals wie das Tanz-und-Folk-Festival in Rudolstadt werden von der breiten Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, von politischer - oder auch nur kulturpolitischer - Relevanz ganz zu schweigen.
Auf der Burg Waldeck konnte also weder eine Art deutsches Chanson etabliert werden, noch wurde das politische Lied wirklich weiterentwickelt. Der Versuch, die Politisierung quasi zu erzwingen, führte schließlich zum Scheitern des Festivals. Einige Künstler wie Wader oder Degenhardt wandten sich in der Folgezeit der DKP zu. Andere, wie Reinhard Mey, wählten die Karriere und den kommerziellen Erfolg. Nicht wenige fielen der Vergessenheit anheim. Eine kritische Analyse etwa von Waders Interpretation der Arbeiterlieder, die sich stark an der Sammlung von Wolfgang Steinitz aus der DDR orientiert hat, steht bislang aus. Darin wurden die heiligen roten Banner, die Heere von Feinden, der revolutionäre Kampf, zu dem es aufzubrechen gelte und der Hunger der Unterdrückten beschworen, ohne dass man der ersten Generation von Wohlstandskindern irgendeine Idee vermittelte, wie das alles mit ihrer Situation im Wirtschaftswunderland zusammenhing. Das gleiche gilt für Degenhardt, dessen Politisierung in einer verbalen Radikalisierung mündete, die er auf die selbst getextete Liedzeile brachte: "Zwischentöne sind nur Krampf im Klassenkampf".
Eine neue, progressive, breitenwirksame Volksliedtradition wurde durch das Festival auf der Burg Waldeck also kaum entwickelt. Auch wenn die Lieder Degenhardts und Waders Einzug in einige Liederbücher gehalten haben, blieb ihre Wirksamkeit begrenzt.
Waldeck hat wie andere Formen der Protestkultur aber eine andere, viel wichtigere Funktion gehabt. Hier wurde, wenn auch mit noch unzureichenden Mitteln, am Konsens der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft und ihrer verkrusteten Kulturelite gerüttelt. Provokativ wurde die Frage nach der Schuld der Väter gestellt. Es kam schließlich zu einem Bruch mit dem Lebensstil und der Lebensphilosophie der Elterngeneration. Obwohl viele Protagonisten selbst sich dogmatisch verstrickten, wurden mit diesem Festival Türen für neue, pluralistische Lebensformen und Kulturformen aufgestoßen. Der ungeheure Pluralismus der heutigen deutschen Gesellschaft, wäre ohne diesen Anstoß undenkbar.
Olaf Schäfer, geboren 1965, ist Lehrer und Musiker in Berlin und hat promoviert über das Problem von Politik und Ideologie in der Musik.
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