Neuköllner Zustände

Berliner Kiez In der Debatte um Hassprediger und Parallelgesellschaften werden Ängste geschürt, die nach Wählern am rechten Rand schielen

In den Niederlanden kam es in den vergangenen Wochen zu Ausschreitungen gegen muslimische Einrichtungen, nachdem ein Islamist den Filmemacher Theo van Gogh ermordet hatte. Ein Großteil der bürgerlichen Medien in Deutschland nahm dies zum Anlass, das Ende der multikulturellen Gesellschaft zu verkünden. Als Kronzeuge wurde in verschiedenen Medien der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky zitiert, der auf allen Kanälen verbreiten durfte, dass in seinem Stadtbezirk die multikulturelle Gesellschaft schon gescheitert sei.

Auch andere, wie der Bayerische Innenminister Beckstein und sogar Otto Schily wussten von Parallelgesellschaften und Hasspredigern zu berichten und meinten damit keinesfalls jene konservativen Katholiken, die den Ausfällen des Italieners Buttiglione gegen die Gleichberechtigung der Frau und Homosexuelle offen oder klammheimlich Beifall zollen. Offensichtlich fürchtet man sich in Deutschland nicht vor dem sich zunehmend etablierenden Rechtsextremismus in Europa, sondern vor den "Neuköllner Zuständen".

Ohne Zweifel ballen sich in diesem Stadtteil Probleme wie in kaum einer anderen Kommune Deutschlands. Fast ein Drittel der über 300.000 Einwohner Neuköllns hat einen Migrationshintergrund. Vor allem im Norden dieses Bezirks haben sich Einwanderer aus über 160 Nationen niedergelassen, in der Mehrzahl Türken, Araber, Albaner und Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien. In der Altstadt mit ihren zahlreichen Mietskasernen und Hinterhöfen, die direkt von Heinrich Zille gezeichnet sein könnten, haben an den Schulen die Mehrheitsverhältnisse schon gewechselt, denn 80 Prozent der Schüler stammen aus Einwandererfamilien. Die meisten von ihnen wurden freilich hier geboren. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Schule ohne einen Abschluss verlassen oder nur den Hauptschulabschluss erreichen, ist doppelt so hoch wie bei deutschen Kindern. Man könnte sagen, diese Kinder scheitern an der deutschen Schule. Man kann es aber auch anders herum sehen. Die deutsche Schule scheitert an den Kindern der Einwanderer.

Seit über 40 Jahren gibt es nun diese Einwanderung, ohne dass es bisher ein schlüssiges Konzept zur Integration der Menschen gibt. Als man Anfang der sechziger Jahre den Arbeitskräftebedarf der westdeutschen Industrie nicht mehr nur aus der DDR decken konnte, warb man Arbeitskräfte für einfache Industrietätigkeiten aus Ländern am Rande Europas an. Inzwischen hat sich die Industrie, welche einmal diese Menschen anwarb, weitgehend verflüchtigt. Nach dem Abbau der als "Berlinzulage" getarnten Subventionen verschwand in Westberlin nach 1989 ein Großteil der traditionellen Industriearbeitsplätze. Andere Industrieregionen wie das Ruhrgebiet und der Osten Deutschlands machten ähnliche Entwicklungen durch. Betroffen davon sind vor allem die traditionellen Arbeiterbezirke und die ausländischen Arbeiter, die zuvor einfachste Tätigkeiten ausführten. Unter ihnen ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch, wie unter der deutschen Bevölkerung.

Der Sozialabbau der letzten Jahre tat ein Übriges dazu, so dass inzwischen in Neukölln jeder vierte Einwohner unterhalb der von der EU festgelegten Armutsgrenze lebt. Unter ihnen auch viele Kinder. Hier, am unteren Ende des sozialen Spektrums zeigen sich Folgen der viel gelobten Marktwirtschaft, die den rechten Apologeten des Sozialabbaus, die allesamt in gesicherten Verhältnissen und bürgerlichen Wohnquartieren wohnen, so gar nicht gefallen. Orientierung und soziale Wärme gibt es hier nur in der Familie, der Jugendgang oder in der Moschee, denn für andere Freizeitvergnügen fehlt meist das Geld und kostenlose staatliche Angebote sind Mangelwahre. Schon der Eintritt ins Freibad ist für viele unerschwinglich!

Dass unter solchen Bedingungen auch Hass und Gewalt entsteht, ist logisch. Dennoch ist alles Gerede von den holländischen Zuständen und dem Scheitern der multikulturellen Gesellschaft Unsinn. Denn zumindest der Neuköllner Norden wäre ohne seine Einwanderer eine Wüste. Nicht nur der so genannte Türkenmarkt am Maybachufer, der in jedem Stadtführer über Berlin als Attraktion erwähnt wird, zeugt von ausländischem Gewerbefleiß. Auch die durch den gleichnamigen Film bekannte Sonnenallee wäre an ihrem Neuköllner Ende ohne die zahlreichen türkischen und arabischen Läden längst verödet. Außerdem ist die multikulturelle Gesellschaft eine Tatsache, die gar nicht scheitern kann. Es sei denn, man würde die inhumanen Nürnberger Gesetze wieder einführen und zwangsweise die Monokultur durchsetzten. Aber wer will schon ernsthaft auf Pizza, Döner, Jeans und amerikanische Musik verzichten?

Wenn man überhaupt vom Scheitern reden kann, so vom Scheitern der Einwanderungspolitik. Man denke nur an die würdelose Auseinandersetzung um das Einwanderungsgesetz. Dass angesichts der holländischen Pogrome ausgerechnet Politiker vom rechten Rand des bürgerlichen Spektrums das Wort führen, die sich bisher vor allem dadurch hervortaten, dass sie eine vernünftige Auseinandersetzung mit dem Thema Einwanderung hintertrieben, ist bezeichnend. So war es gerade der jetzt so viel zitierte Neuköllner Bürgermeister, der noch vor wenigen Jahren meinte, man brauche in Neukölln keinen Migrationsbeauftragten oder gar einen Ausländerbeirat.

Die Biedermänner aus der Politik schielen mit ihren Parolen vom angeblichen Scheitern offen oder heimlich nach Wählern am rechten Rand. Dieser reicht weit bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. Denn in den kleinbürgerlichen Reihenhaussiedlungen am Rande der multikulturellen Metropole geht inzwischen auch die Angst vor Harz IV um. Hier glaubte man bislang, dass man mit den dunkelhaarigen Proleten aus den Mietskasernen nichts gemeinsam habe. Jetzt sieht man sich im Falle des Arbeitsplatzverlusts sehr schnell mit ihnen gleichgestellt. Da kommen die Parolen der Volkstribune gerade recht, um als Ventil zu dienen.

Wenn jedoch Hohl- und Glatzköpfe jene Parolen in die Tat umsetzen und mit Baseballschläger und Benzinkanister gegen die angeblichen Parallelgesellschaft vorgehen, vollendet sich das alte Spiel vom Biedermann und Brandstifter erneut. Weihnachten treffen wir uns dann alle wieder zur Lichterkette.

Der Autor lebt seit Jahren in Neukölln, arbeitet an einer Neuköllner Grundschule und ist Mitglied des Neuköllner Migrationsbeirats.


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