Dieses Gefühl der Überlegenheit

Deutschland Wurde der Osten nach 1989 vom Westen „kolonisiert“? Erste Eindrücke von einer Tagung in Dresden, die genau dieser Frage nachgeht
Unter welchem historischen Blickwinkel ist die Wiedervereinigung zu betrachten?
Unter welchem historischen Blickwinkel ist die Wiedervereinigung zu betrachten?

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Bereits der Name dieser Tagung, die der ostdeutschen Entwicklung seit 1990 auf der Spur ist, birgt historischen Zündstoff. Mit „Kolonie Ost?“ ist sie provokant betitelt, und schon vor Beginn der Konferenz drängten sich Fragen auf. Handelt es hier sich etwa um einen Vergleich der deutschen Wiedervereinigung mit der Kolonialgeschichte? Ist so etwas überhaupt möglich? Aber nein, eine solch pauschale Parallelisierung wird hier nicht vorgenommen. Die vom Dresdner Institut für Kulturstudien eingeladenen Wissenschaftler und das historisch interessierte Publikum begeben sich vielmehr auf die Suche nach ökonomischen, kulturellen und soziologischen „Aspekten“ von Kolonialisierung in Ostdeutschland.

Der Dresdner Forscher Michael Hofmann etwa stellt die Frage in den Raum, unter welchem historischen Blickwinkel die Wiedervereinigung zu betrachten ist. Handelt es sich um eine Modernisierung des Ostens nach 1990? War die Haltung Westdeutschlands die eines Kolonialherren? Oder haben wir es mit einer Landnahme im Sinne Rosa Luxemburgs zu tun? Klar wird jedenfalls eines: egal, welcher historische Blick eingenommen wird, die Wiedervereinigung erfolgte unter der Prämisse eines rückständigen Ostens, der sich dem fortschrittlichen Westen anzupassen hatte – umgekehrt glaubten viele im Westen, wenig bis gar nichts vom neuen Nachbarn lernen zu können.

Eine innere Landnahme

Auf diesem Befund fußen die folgenden Vorträge, etwa die Präsentation aktueller Forschungsergebnisse von Naika Foroutan, die in der Diskriminierung von Ostdeutschen und Muslimen ähnliche Muster erkannt und untersucht hat. Ihr zufolge gibt es stereotype Bilder, die beiden Gruppen zugeschrieben werden, etwa die des selbstmitleidigen Ostdeutschen (Stichwort: „Jammerossi“) oder des Muslims, der sich seine strukturelle Diskriminierung nur einbilden würden. Foroutans Statistiken zufolge hegen Ost- und Westdeutsche ähnliche Vorurteile gegenüber dem Islam, wohingegen die stereotype Betrachtung von DDR-Bürgern im Westen höhere Verbreitung hat. Interessant ist dennoch, dass sich immer noch überraschend viele Ostbürger die negativen Ansichten ihnen gegenüber zu eigen gemacht haben. In der Begrifflichkeit des Vorredners Hofmann haben wir es hier mit einer „inneren Landnahme“ zu tun: demzufolge wurden die negativen Erfahrungen der Wiedervereinigung den Ostdeutschen nicht bloß aufgedrängt, sondern durch die Internalisierung der Vorurteile mitunter selbst befeuert.

Derart steile Thesen, die in einem engen Zeitfenster argumentativ aufgebaut und zur Diskussion gestellt werden müssen, laden offensichtlich zu Widersprüchen ein. Kritische Nachfragen zu Erhebungsmethoden, Terminologie oder Fakteninterpretation folgen jedem Vortrag, so dass aufgrund des Engagements des knapp hundertköpfigen Publikums regelmäßig die Pausen gekürzt werden müssen. Die kontroverse Debatte, die der Tagungstitel bereits erwarten ließ, findet tatsächlich statt. Bemängelt wird zum Beispiel mehrfach, dass keiner der Vorträge von Kolonialismus-Experten gehalten wird, so dass die Fragestellung gewissermaßen zu effekthascherischen Begriffsspielereien einzuladen droht, ohne der Realität des Kolonialismus‘ Rechnung zu tragen.

Zum Beispiel die Treuhand

Die Vortragenden geben jedoch ihr Bestes, um die Frage nach kolonialen Elementen zu ergründen. Marcus Böick vom Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum, Autor der ersten umfassenden zeithistorischen Untersuchung zur Treuhandanstalt, verweist darauf, dass die Interpretation der Wiedervereinigung als koloniale Enteignung besonders innerhalb der politischen Linken Geschichte habe: bereits Anfang der 1990er Jahre seien Bücher mit einem solchen Blickwinkel veröffentlicht worden – etwa in Hinblick auf die Treuhandanstalt als Symbol der Demütigung des Ostens. Neben der ökonomischen Perspektive, also der „raschen Massenprivatisierung“ östlicher Staatsbetriebe „an West-Investoren“, betont Böick auch den exotisierend-herabwürdigenden Blick vieler Westdeutscher auf die neuen Mitbürger, der mit einer kolonialistischen Sichtweise durchaus vergleichbar sei. Diese paternalistische Haltung, die auch vor den ostdeutschen Erwerbsbiografien keinen Halt machte, habe zu einem enormen Herabwürdigungsgefühl geführt.

Die kulturelle Verdrängung wird dann im letzten Vortrag des Tages noch einmal gesondert thematisiert: Der Kulturwissenschaftler und Direktor des Dresdner Instituts für Kulturstudien, Paul Kaiser, bringt auf emotionale Weise seinen Blick auf den „Bilderstreit“ zum Ausdruck. Dass ostdeutsche Kunst kaum in großen deutschen Galerien zu sehen ist, führt er auf „Unwissenheit“ und eine „westdeutsche Überlegenheitsinszenierung“ mit „kolonialer Attitüde“ zurück. Diese Unwissenheit äußere sich etwa darin, dass die ostdeutsche Kunst immer wieder auf einen Gegensatz von staatsaffirmativ und -kritisch reduziert werde, obwohl sie sich nicht nur auf politischen Gehalt beschränken lasse.

Im generellen Befund – dass die kulturelle und ökonomische Herabwürdigung des Ostens seit 1990 einem bis heute spürbaren westlichen Überlegenheitsgefühl entspringt – sind sich die meisten Vortragenden einig. Alternative Zukunftsoptionen, wie die Hoffnungen Kaisers auf eine „ostdeutsche Komponente einer gesamtdeutschen Kunstbetrachtung“, finden sich ansonsten selten. Doch ist es wohl kaum Aufgabe einer wissenschaftlichen Konferenz, Patentrezepte für eine seit Jahrzehnten andauernde politische Krise parat zu haben.

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