Die sinkende Inzidenz macht’s möglich: Ab Juli soll die Homeoffice-Pflicht auslaufen. Damit würde Realität, was sich schon abgezeichnet hat: Der Alltag der allermeisten Beschäftigten wird nach der Pandemie genauso so sein wie zuvor. Von wegen „Jede Krise ist eine Chance“: Nachdem sich die Arbeitsbedingungen in Fleischfabriken und auf Spargelfeldern trotz erhöhter medialer Aufmerksamkeit kaum verändert haben, wird nun auch der Status quo für die Millionen Schreibtischarbeitenden wiederhergestellt. Eine bittere Niederlage für all die Linken, die zu Pandemiebeginn an eine Aufwertung sogenannter systemrelevanter Arbeiten, an die Umverteilung gesellschaftlich notwendiger Tätigkeiten oder gar an einen Systemwechsel glauben wollten.
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.Keiner dieser frommen Wünsche wurde erfüllt – und nach der Wahl im September könnte alles noch schlimmer kommen: Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft forderte kürzlich die Ausweitung der Wochenarbeitszeit, weniger Urlaubstage, um die coronabedingt gestiegenen Staatsschulden abzubauen – und ein Renteneintrittsalter mit 70. Progressive Mehrheiten zur Vereitelung derartiger Projekte sind nicht in Sicht, dabei gäbe es viel zu tun: Schon heute werden in Deutschland jedes Jahr Hunderte Millionen von unbezahlten Überstunden geleistet – von der Reproduktionsarbeit ganz zu schweigen. Die Zahl der Burn-outs nimmt zu. Und während das New-Work-Konzept des Philosophen Frithjof Bergmann eigentlich für die Abschaffung der Erwerbsarbeit sorgen sollte, ist das Gegenteil passiert: Unter Neuer Arbeit wird heutzutage oft bloß Flexibilisierung und Prekarisierung verstanden.Dabei sehnen nicht nur Linke eine emanzipatorische Zukunft der Arbeitswelt herbei: Fast noch überzeugter von dieser Notwendigkeit sind Unternehmer wie dm-Gründer Götz Werner oder Silicon-Valley-Prophet Elon Musk – sie eint der Glaube an die baldige Notwendigkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens, da der Fortschritt der Technik viele Arbeiter überflüssig machen werde.Diese Überzeugung hielt Musk nicht davon ab, 2018 zu verkünden: „Niemand hat je die Welt mit 40 Wochenstunden geändert.“ Der Tesla-Chef verkörpert die Widersprüchlichkeit der gegenwärtigen Diskurse über Arbeit: Heute muss mehr gearbeitet werden, aber in zehn Jahren werden Roboter für uns malochen! Ein mechanistischer Fortschrittsglaube, so verbreitet wie falsch.Schon 1930 stieß John Maynard Keynes in seinem Essay Economic Possibilities for our Grandchildren in das gleiche Horn: 2030, so Keynes, müssten die allermeisten Menschen sich nicht mehr abrackern, um zu überleben. Der Lebensstandard werde merklich höher sein, eine 15-Stunden-Woche könne ausreichen, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen: „Zum ersten Mal seit seiner Schöpfung wird der Mensch mit seinem wahren, seinem ständigen Problem konfrontiert sein – wie er seine Freiheit vom ökonomischen Druck nutzen und seine Freizeit gestalten soll.“Ma will die 72-Stunden-WocheBis 2030 ist es nicht mehr lange, doch von 15-Stunden-Wochen ist weltweit wenig zu sehen: So viele Menschen wie nie zuvor sind in Erwerbsarbeit. Der chinesische Jeff Bezos, Jack Ma, propagiert die 72-Stunden-Woche, während die letzte große Kampagne zur Senkung der Wochenarbeitszeit hierzulande Jahrzehnte vor dem Mauerfall umging („Samstags gehört Vati mir!“).Hatte Keynes also unrecht? Jein. Produktivität und Lebensstandard haben sich in den vergangenen 90 Jahren tatsächlich in zuvor nie gesehenem Maße erhöht. Aber es gibt keinen Automatismus, der die Erhöhung der Produktivkraft in Verkürzung der Arbeitszeit umsetzt. Ein Unternehmer, der durch Innovation viermal so viel produzieren kann wie vorher, viertelt nicht die Arbeitszeit seiner Belegschaft, sondern versucht, Produktion und Absatz zu vervierfachen. Ein Blick in die Geschichte der Arbeiterbewegung zeigt, dass eine Beschränkung der Arbeitszeit und eine Humanisierung der Arbeitsbedingungen möglich sind, aber nie kampflos erreicht wurden. Wer sie will, darf nicht auf den unausweichlichen Gang der Dinge hoffen. Weder „der Markt“ noch „die Roboter“ werden uns von der Arbeit erlösen, das können wir nur selber tun.Placeholder authorbio-1