Halten wir als Erstes fest: Um die Musik ging es beim Eurovision Song Contest nur peripher. Der Wettbewerb hatte für Aserbaidschan eine enorme Bedeutung, die aber nur wenig mit dem zu tun hatte, was in der großen Halle auf der Showbühne passierte. Das Land wollte sich Europa und vor allem internationalen Investoren als offen, modern und gastfreundlich zeigen.
Ist das gelungen? Wahrscheinlich ja. Es gab zwar auch negative Schlagzeilen rund um Aserbaidschan, aber im Großen und Ganzen kann man nicht davon ausgehen, dass 17 politische Gefangene und mangelnde Pressefreiheit ausländische Unternehmen abschrecken könnten. Die Berichterstattung der Medien im Vorfeld war zwar teils kritisch, doch oftmals auch sehr diffus und gekennzeichnet durch ein gutes Stück Ignoranz: So wurden etwa Vertreter der Nationalen Front als Demokraten interviewt – und Autoren mit einer eher fragwürdige Einstellung zur Homosexualität wurden zu den Rechten von Homosexuellen im Land befragt.
Die Hauptstadt Baku befand sich bereits Monate vorher im Ausnahmezustand. Alles hier war auf den ESC ausgerichtet: Die Innenstadt war übervoll mit ESC-Plakaten und Ständen mit Merchandise-Produkten. Und erstaunlicherweise wurden diese ESC-T-Shirts und Hüte auch überaus gern getragen, nicht nur von Schlachtenbummlern.
Mit Dosenbier und Flaggen
Ich habe mir zuerst das Jury-Finale am 25. Mai in der Halle angeschaut und mich am nächsten Tag, dem Tag der endgültigen Entscheidung, unter die Menge beim Public Viewing an der Uferpromenade gemischt. Den Schluss des Finales habe ich dann schließlich im „Otto-Club“ in der Innenstadt von Baku gesehen. Die abendliche Stimmung war dabei nicht viel anders als bei einem Fußballderby – Männergruppen, die durch die Stadt streiften, bewaffnet mit Dosenbier und Flagge. Die blauen Stunden wurden der Jagd nach Abfällen des ESC-Glamours gewidmet.
Die Chrystal Hall, erbaut in Rekordzeit, leuchtete jeden Abend schon von weitem wie eine Weihnachtskugel. Die Halle füllte sich am Abend des Jury-Finales schnell, die Stimmung war ausgelassen. Alkohol wurde keiner ausgeschenkt. Da viele Plätze frei blieben, platzierten die zahlreichen Sicherheitskräfte kleine Kinder, die mit ihren Fahnen in die Kameras winken sollten.
Die Show ging überraschend zügig voran. Es gab an diesem Abend keine Moderation zwischen den einzelnen Songs, sondern nur kurze Werbefilme für Aserbaidschan, die an Neckermann-Reisekataloge erinnerten. Fast alle zeigten Baku.
Brisant war der Werbefilm für Bergkarabach, der direkt vor dem aserbaidschanischen Beitrag gesendet wurde. Der Streit um die Region Bergkarabach war 1990 der Auslöser für den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan: Der Konflikt ist bis heute ungelöst und Bergkarabach wird von Aserbaidschan und vor dem Völkerrecht als okkupiert gesehen. Nach dem aserbaidschanischen Beitrag tobte die Menge, die Displays aller Mobiltelefone leuchteten und der entfesselte Nationalismus versank in einem Flaggenmeer.
Während der Tage des Wettbewerbs waren die Sicherheitskräfte und die Polizisten übernervös, vor dem Innenministerium marschierten Soldaten im Gleichschritt und mit geladenen Gewehren. Auf den Straßen waren von den Einheimischen vor allem junge Männer zu sehen, die Jagd auf Frauen machten. Am Boulevard, der Uferpromenade von Baku, wurde eine riesige Leinwand aufgestellt – dort konnte man das Finale beobachten. Der Platz füllte sich schnell mit jungen Männern, alle mit Nationalflaggen ausgestattet und voller Testosteron. Sie brüllten „ASERBAIDSCHAN“ noch bevor die Show angefangen hatte, danach gab es erst recht keinen Halt mehr. Pfiffe, Händeklatschen und Skandieren. Nicht mal der einsetzende Platzregen hatte eine abkühlende Wirkung.
Zu allem bereit?
Es war, als ob ein Bürgerkrieg nahen würde oder eher schon im vollen Gange sei – alles in allem erinnerte es mich stark an die Monate nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als die Nationale Front versuchte, die Macht zu übernehmen. Ich vermochte mir nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn Armenien am Contest tatsächlich teilgenommen hätte. Die Menge schien zu allem bereit zu sein.
Nach den ersten Songs wurde mir schnell klar, dass ich das Ganze nicht länger ertragen könnte. Ich flüchtete in einen Club, in den der ESC live übertragen wurde. Auch hier war alles voller Flaggen, aber doch ein wenig erträglicher. Die Auftritte von Aserbaidschan und der Türkei wurden mit anfeuernden Pfiffen und Klatschen begleitet, Fahnen wurden im Takt geschwenkt. Es wurde genau verfolgt, welches Land wie viele Punkte Aserbaidschan gegeben hatte. Sobald es sieben oder mehr waren, feierten die Zuschauer.
Nach dem Finale ging die Feier in der Innenstadt weiter. Viele zogen weiter durch die Bars oder fuhren Auto-Corso, wenn die Stimmung sich auch nicht mit der im letzten Jahr, als Aserbaidschan den Contest gewonnen hatte, vergleichen ließ. Das Land war dennoch stolz, bewiesen zu haben, dass es auch ein Großevent ausrichten kann. Und für viele in Aserbaidschan war auch das wichtig: Vom Konflikt mit Armenien und von Armenien überhaupt, war keine Rede.
Olga Grjasnowa wurde 1984 in Baku geboren und lebt seit 1996 in Deutschland. Im Frühjahr erschien ihr Romandebüt Der Russe ist einer, der Birken liebt im Hanser Verlag. Im Freitag porträtierte sie in der vergangenen Ausgabe ihre Heimatstadt Baku.
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