Wer noch ein Beispiel dafür braucht, dass das Strafrecht kein besonders gut geeignetes Instrument zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte ist: Der Prozess gegen den früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten und Bundespräsidenten Christian Wulff eignet sich dafür bestens. Wie hier in bislang fünf Hauptverhandlungstagen versucht wird zu erforschen, wer wann welche Rechnung bezahlt und damit lautere oder unlautere Motive verfolgt haben könnte, hat nicht nur etwas überaus Trostloses. Es ist auch eine juristische Kärrnerarbeit, an deren Ende kein überzeugendes Ergebnis stehen kann. Die Zeuginnen und Zeugen erinnern sich schlecht, sie machen, soweit es sich um Hotelangestellte und Babysitter handelt, keinen Hehl daraus, dass ihnen das Verfahren weniger bedeutet als ihr Arbeitsplatz. Soweit es Bekannte oder Freunde des Angeklagten sind, ist ihnen das Verfahren erst recht ein Ärgernis, sodass sie auch nicht gewillt erscheinen, zu irgendeiner Aufklärung ernsthaft beizutragen.
Charakteristisch für diese salopp-verächtliche Haltung war der Auftritt von Maria Furtwängler-Burda vor dem Landgericht in Hannover, der unmissverständlich signalisierte, wie wenig eine glamouröse Oberschicht, zu der sich Wulff gern gesellte, von dem Grundsatz hält, dass alle vor dem Gesetz gleich zu behandeln seien. Bemüht darum, ironisch und souverän zu erscheinen, teilte Frau Furtwängler mit, sie wisse nicht, wer an diesem Abend bezahlt habe, an dem für mehr als tausend Euro Champagner für das kleine Grüppchen geflossen ist: „Ich gehe immer davon aus, dass mein Mann bezahlt.“ Und um die Unsittenskizze zu vervollständigen, wandte sich die Schauspielerin an das Gericht: „Darf ich auch eine Frage stellen? Was könnte meine Befragung hier bestenfalls beitragen?“ Die passende Antwort darauf konnte der Vorsitzende Richter nicht geben, er hätte sich einen Befangenheitsantrag eingehandelt – und das zu Recht.
Zähne zusammengebissen
Von den Prozessbeobachtern mochte bislang aber keiner das Sujet wechseln und in das Fach des Gesellschaftskritikers wechseln – vielleicht ist dazu auch keiner in der Lage. So sammelte die Verteidigung Wulffs ein paar Punkte, die ihr vielleicht helfen könnten, am Ende mithilfe des Grundsatzes „Im Zweifel für den Angeklagten“ einen Freispruch zu erwirken, und Frau Furtwängler konnte sich in dem Gefühl sonnen, als couragierte Streiterin für Unterhaltung und Gerechtigkeit aufgetreten zu sein. Der Vorsitzende Richter biss dagegen die Zähne zusammen und beschränkte sich auf ein mürrisches „Das werden Sie dann im Urteil nachlesen können“. Ob es allerdings ein Urteil geben wird, ist keineswegs klar: Das Gericht hat angekündigt, am 19. Dezember, also nach gut einem Viertel der 22 angesetzten Verhandlungstage, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Das ist in größeren Verfahren nicht unüblich. Bestenfalls kann dadurch das Verfahren gestrafft werden; ein mit der vorsichtigen Gewichtung der bisherigen Beweisaufnahme einhergehendes Rechtsgespräch kann auch dazu dienen, einen Verfahrensabschluss zu suchen, der kein Urteil verlangt: Hier kommt vor allem eine Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen in Betracht. Dass der Angeklagte diesen Weg schon einmal ausgeschlossen hat, als er dem Strafbefehl über 20.000 Euro widersprochen hat, muss nichts für die nahe Zukunft heißen. Wenn das Gericht Wulff plausibel machte, dass ihm andernfalls eine Verurteilung droht, könnte der Ex-Politiker trotz seines Hangs zum Ausharren bis zum Untergang doch bereit sein, das kleinere Übel zu wählen.
Es wäre sicher auch für die Justiz das kleinere Übel, die sich nur schwer aus dem Dilemma dieses Strafprozesses befreien kann, das darin liegt, dass der strafrechtliche Vorwurf der Vorteilnahme und die Höhe des Geldbetrages von 720 Euro krass auseinanderfallen. Natürlich ist die Annahme nicht überzeugend, Wulff habe sich für lediglich 720 Euro kaufen lassen – und genauso plausibel erscheint nach allem, was wir wissen, dass der ehemalige Spitzenpolitiker sogar billiger zu haben war: Ihm war es offenbar schon äußerst viel wert dabei zu sein oder sogar Teil dieser bunten Kreise zu sein. Dass er dabei auch finanziell noch ein bisschen profitiert haben könnte, das eine oder andere Glas Champagner getrunken hat, dass er sich sonst nicht geleistet hätte, vielleicht auch sonstige Vergünstigungen in Anspruch genommen hat, dürfte dahinter sogar zurückgetreten sein. Das heißt: Der moralische und politische Vorwurf, den man Wulff machen muss, wiegt erheblich schwerer als der strafrechtliche, der gemessen daran wie eine Bagatelle wirkt. Dennoch wäre es kaum zu begründen gewesen, das strafrechtliche Verfahren deswegen einfach nicht weiter zu betreiben und einzustellen. Schon gar nicht taugt für einen solchen Schritt die Begründung, dass in anderen Verfahren angeblich weitaus weniger engagiert ermittelt worden ist. Es gibt, lernen angehende Juristen, keine Gleichheit im Unrecht. Aus der Tatsache, dass manche ohne Prozess davonkommen, darf man nicht schließen, auch der Rechtsbruch anderer müsse übergangen werden, er habe schließlich ein deutlich geringeres Ausmaß.
Im Übrigen könnte das andere Verfahren, in dem es darum geht, was in Christian Wulffs Umfeld möglich war und was nicht, sich zum eigentlich interessanten Prozess entwickeln: Dort geht es um die Verquickung des Einwerbens von Sponsorengeldern für ein politisches Steckenpferd des niedersächsischen Ministerpräsidenten, den deutschen Nord-Süd-Dialog, mit privaten Urlauben. Wulffs ehemaliger Sprecher Olaf Glaeseker, der von seinem Chef schon mal als „Faktotum“ oder „Alter Ego“ bezeichnet wurde, ist in diesem Verfahren wegen Bestechlichkeit angeklagt. Er reklamiert aber nicht ganz ohne Überzeugungskraft, dass er stets mit Wissen und im Einverständnis mit Wulff gehandelt habe. Das hat Wulff selbst allerdings bestritten – und es wird sich weisen, wie überzeugend ihm das gelingt, wenn er Anfang nächsten Jahres hier in der öffentlichen Hauptverhandlung in den Zeugenstand treten muss.
Was also bleibt? Der politische Skandal, der in der Amtsführung Wulffs lag, die Zweifel an seiner Unabhängigkeit wecken musste, kann im Strafprozess nicht aufgearbeitet werden. Zwar haben die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen es Wulff unmöglich gemacht, im Amt zu bleiben. Dass er nicht vorher den gebotenen Rückzug geordnet angetreten hat, ist aber nicht den Staatsanwälten zur Last zu legen. Auch dass Wulff in dem Irrglauben, ein Freispruch könnte ihn auch politisch und moralisch entlasten, auf der Eröffnung des Verfahrens bestand, geht nicht zu Lasten der Justiz.
Faktotum des Chefs
Vielleicht hätten Staatsanwaltschaft und Gericht besser daran getan, das Verfahren gegen Wulff einzustellen. Laut Strafprozessordnung wäre das möglich gewesen. Allerdings kann man angesichts der Besonderheiten des Falls auch mit guten Gründen in Zweifel ziehen, dass das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung so zufriedenstellend hätte beseitigt werden können. Mag sein, dass Wulff, gemessen am Personal im politischen Milieu, ein vergleichsweise kleines Licht ist und der Verdacht gegen ihn weitaus weniger schwer wiegt als gegen andere aus diesen Kreisen. Aber es gibt ja auch noch andere, die wegen des Verdachts auf Beförderungserschleichung oder Diebstahl vor Gericht kommen – sie zu verfolgen, einen Spitzenpolitiker aber trotz starker Verdachtsmomente nicht, wäre rechtsstaatlich ein schlechtes Signal gewesen.
Bislang, auch das muss man sagen, schlägt sich die Justiz in diesem brisanten Verfahren, in dem niemand so recht gewinnen kann, wacker. Das eigentliche Thema ist deswegen auch gar nicht, ob der Rechtsstaat hier überreagiert hat, wie viele Medien seit Eröffnung des Verfahrens suggerieren. Die Debatte müsste sich um das Verhältnis von Politik, Wirtschaft und Lobbyisten drehen: Hier werden die Verhältnisse geschaffen, die im Niedergang von Christian Wulff ihren Ausdruck gefunden haben. Das bemerkenswerteste Symptom dafür, wie unbefriedigend die Verhältnisse sind, ist, dass die UN-Konvention gegen Korruption von Deutschland zwar 2003 unterzeichnet, bis heute aber nicht ratifiziert worden ist. Vor allem auch deswegen nicht, weil Paragraph 108 Strafgesetzbuch, der die Abgeordnetenbestechung unter Strafe stellt, erheblich verschärft werden müsste. Das löst zwar an dem Problem nichts, dass Strafrecht nur als ultima ratio und auch das nur notdürftig funktionieren kann – ein klares Ja für eine andere Gesetzeslage wäre aber zuerst einmal auch ein gesellschaftspolitisches Signal.
Oliver Tolmein ist Autor, Journalist und Rechtsanwalt
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