Auch Empörung stumpft ab, wenn im alltäglichen Nachrichtenritual die Spannung verloren geht, weil die Realität fortwährend auch die unglaubwürdigsten Ausgeburten der Phantasie Lügen straft. Was wir gegenwärtig erleben, hat längst die Ebene moralischen Protestes verlassen. In den durch wache Öffentlichkeit erzwungenen Geständnissen bekundet sich ja in keinem Falle auch nur das geringste Unrechtsbewusstsein, von Zügen des Schuldbewusstseins kann ohnehin nicht geredet werden.
Sie lügen, verdrehen, verschieben die Verantwortung auf jene, in deren Nähe sie doch aufgewachsen sind. Wenn es um Kopf und Kragen geht, wird auch der eigene Freund verraten; der drohende Machtverlust enthüllt auch die schäbige Seite der Beziehungen untereinander. Ich sage nicht, man sollte bei dieser öffentlich zur Schau getragenen Niedertracht im Verhalten überwiegend mit Macht und Mandat ausgestatteter Politiker (und ihrer Rechnungshandlanger) die moralischen Aspekte ganz beseite schieben.
Wer aber den Blick darauf verengt, greift viel zu kurz. Die Brandstifter selbst, die sich als Biedermänner darstellen, betonen immer wieder, die Lösung dieser Probleme sei nicht durch eine Personaldebatte zu bewerkstelligen. Sie haben recht. Zur Debatte steht der moralische Zerfall eines ganzen Systems, in dem sie selbst verwickelt sind, keineswegs als bloße Opfer, sondern überwiegend als zuschauende oder auch wegschauende Täter.
Wie ist so etwas möglich? Unter den mannigfachen Gründen, die gewiss von aufmerksamen Zeitgenossen zukünftig noch benannt werden können, will ich hier kurz einen hervorheben. In der gegenwärtigen Gestalt des Kapitalismus ist das, was in der großen bürgerlichen Ökonomie-Tradition seit Adam Smith und Ricardo bis hin zu Keynes und Walter Eucken Wohlstand der Nation, Gemeinwesen genannt wurde, zum Beutegut betriebswirtschaftlicher Kalkulation geworden. In dieser Art Risikogesellschaft gilt als dumm, wer die Regeln seiner Überlebenspraxis nicht am Ergattern von Vorteilen orientiert; so ist der unternehmerisch tätige Mensch, der alles - auch den Rechtsbruch - wagt, um nicht auf der Verliererstraße zu enden, das enthüllte Geheimnis dieser klug und aufgeklärt gewordenen Moderne, die sich stolz zweite Moderne nennt.
Wo die betriebswirtschaftlichen Realitätsdefinitionen in die Poren der Gesellschaft dringen, ist das Gemeinwesen aufs höchste bedroht. Wenn der gegenwärtige Zustand dem Macht verspricht, der Geld (möglichst viel Geld) hat, dann muss es umgekehrt für viele Mandatsträger, die über staatliche Macht verfügen und denen ihre Worte von den konkurrierenden Medien buchstäblich aus dem Mund gezogen werden, eine unerträgliche Kränkung sein, aus dieser Macht nicht auch Geld zu schlagen.
"Power always corrupts" hat der große englische Liberale Lord Acton gesagt. Aber diese Tendenz hat sich verschärft; denn nie zuvor hatte sich politische Arbeit an den Regeln und Imperativen wirtschaftlichen Handelns so bedenkenlos orientiert wie heute. Nie waren die öffentlichen Tugenden so eingebunden in den Lebenszuschnitt erfolgreicher Unternehmer; man kann in diesem Zusammenhang vom Berlusconi-Syndrom sprechen. "Lasst die Unternehmer an die Macht!" Wen kann es dabei wundern, wenn Ministerpräsidenten, Abgeordnete, völlig parteiunabhängig übrigens, in dieser Symbiose von Wirtschaft und Politik jedes Unterscheidungsvermögen verloren haben. Es wäre freilich ungerecht, Differenzierungen und Größenordnungen ganz aus dem Auge zu verlieren. Für den großbürgerlich-adligen Zuschnitt kommen nur Millionenbeträge infrage und große Transaktionen; in den proletarischen Herkunftsmilieus reichen Zusatzfinanzierungen für Häuserkauf, Hochzeitsferien und Reiseerleichterungen.
Es wäre schlimm, wenn aus den kriminellen Machenschaften der CDU nichts anderes herauskäme, als das Auswechseln des Herrschaftspersonals und die depressive Wirkung auf die Wahlbevölkerung.
Wiederherstellung eines autonomen öffentlichen Raumes politischer Handlungsperspektiven wäre ein ganz anderer Lernprozess; der gegenwärtigen rot-grünen Koalition müssen diese Skandale wie ein Geschenk des Himmels, also von ganz unverhoffter Seite, vorkommen. Sie sollte politische Konsequenzen daraus ziehen und die Chancen wahrnehmen; denn die Wirtschaftsrepräsentanten sind dabei, sich auf eine längere rot-grüne Regierungszeit einzustellen, wo sie doch vor zwei Monaten noch sicher waren, dass dieses Politexperiment den Jahresanfang kaum überlebt. Da ihr Gefühl für die Änderung von Machtverhältnissen instinktgesichert zu sein scheint, könnten die Regierenden durchaus das Wagnis eingehen, den öffentlichen Tugenden gegenüber den politischen Betriebswirten größere Geltung und Macht und Einfluss zu verschaffen.
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