Seltene Dinge tun sich in deutschen Landen. Alle sind sich einig: Die Bundeswehr muss kleiner werden. Sie bedarf einer grundsätzlichen Neuausrichtung. So wie bisher geht es nicht weiter. Doch sogleich wird es wieder typisch deutsch. Alle sind uneinig. Der bundesdeutsche, manchmal rheinisch genannte Kapitalismus kennt für solche Fälle eine angemessene Lösung: Wenn der Reformstau die Handlungsunfähigkeit gefährdet, dann wird eine honorige Kommission aus Vertretern wichtiger gesellschaftlicher Kräfte einberufen, um eine langfristig tragfähige und gesellschaftlich konsensfähige Lösung aufzuarbeiten - also so etwas wie einen partiellen Gesellschaftsvertrag. Und die Politik verspricht, sich an den Empfehlungen der Honorablen später gründlich zu orientieren.
So auch diesmal: Ein Kommission unter Vorsitz von Weizsäckers erarbeitet ein Konzept. Der Generalinspekteur von Kirchbach ein anderes. Beide im Auftrag von Scharping. Der nimmt die Ergebnisse der Weizsäcker-Kommission entgegen und verabschiedet die Mitglieder mit aufrichtigem Dank für ihre geleistete Arbeit. Gleiches widerfährt dem Generalinspekteur. Er wird vorzeitig in den Ruhestand entlassen. Warum? Weil Bundesverteidigungsminister Scharping seit geraumer Zeit auf eigenen Pfaden wandelt. Vollauf über das Denken und die Zwischenergebnisse beider Arbeitsgruppen informiert, hat er den Chef seines Planungsstabes (und künftigen Generalinspekteur), Kujat, mit der Entwicklung eines dritten, des künftigen Ministerkonzepts beauftragt. Hier wird alles eingearbeitet, was Scharping und seine engsten Planer an den anderen Konzepten attraktiv finden.
Das Ergebnis: Die eierlegende Wollmilchsau, das Traditionsprodukt deutscher Bundeswehrplaner. Ein Konzept, das vorgibt, keine Wünsche offen zu lassen und alle Bedürfnisse zu befriedigen. 277.000 Soldaten, ein Zahl zwischen Kommission und Generalinspekteur. Darunter 70.000 Wehrpflichtige für die Liebhaber derselben. Zudem 150.000 "Einsatzkräfte" für das Krisenmanagement - zwei Kontingente a 10.000 Mann für Kriseninterventionen von NATO und EU. Für die Befürworter derselben. Eine 105.000 Mann umfassende "Militärische Grundorganisation". Verteidigungsumfang: 500.000 Soldaten - für die Anhänger der Territorialverteidigung. Auch die technologische Modernisierung wird nicht vergessen. Eine "eigene raumgestützte Aufklärungsfähigkeit" samt "Kommando Strategische Aufklärung" für die Bundeswehr (was sagen da bloß Außen- und Kanzleramt?) - Aufklärungssatelliten für all jene, die nicht länger von den Daten anderer abhängig sein wollen. Eine Verbesserung der strategischen Transportfähigkeit - 75 neue Transportflugzeuge und drei große Einsatztruppen-Unterstützungsschiffe für jene, die Dickschiffe und andere Prestigeprojekte brauchen. Verbesserte Führungs- und Kommunikationssysteme, Abstands- und Präzisionswaffen für die Liebhaber modernster High-Tech. Und eine umfassendes Laufbahnattraktivitätsprogramm für den Bundeswehrverband.
Das charakteristische Kennzeichen der Scharping-Vorschläge: Es hat für alle Partikularinteressen etwas zu bieten. Jeder bekommt etwas - versprochen. Sein Konzept passierte das Kabinett, wenn auch mit Bedenken und neu angezogenen Daumenschrauben. Ganze vier Seiten, angereichert mit haushaltsplanerischen Vorbehalten blieben übrig. Kaum einer glaubt ernsthaft, dass es im Rahmen der Finanzplanung realisiert werden kann. Längst gelten die Wetten der Fachleute, ob des Ministers Bundeswehrpläne 2003 oder erst 2004 mit dem Helm an die Decke des Haushaltes stoßen - trotz Reform, aber nach der nächsten Bundestagswahl.
Doch halt. Die öffentlich strittigen Themen - Wehrpflicht, Umfang, Kosten oder Bündnisverteidigung versus Interventionsarmee - verhindern die eigentlich notwendige Auseinandersetzung. Wofür das alles? Welche Bundeswehr braucht die Bundesrepublik künftig? Und wozu?
Dieser entscheidenden Frage hatten sich die Kommission unter Richard von Weizsäcker und überraschenderweise Bündnis 90/Die Grünen am offensten gestellt. Sie kamen deshalb - weniger überraschend - zu recht ähnlichen Ergebnissen. Ausgangspunkt war beiden die Überlegung, dass sich die Aufgabe der Landesverteidigung künftig nur noch im Rahmen der Bündnisverteidigung an den Außengrenzen der NATO mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit stellt. Darüber hinaus gehe es um militärisches Krisenmanagements in Europa und an seinen Rändern. Für beide Aufgaben würde die Bundeswehr im internationalen Verbund zum Einsatz kommen. Die fortschreitende Integration der Sicherheitspolitik auf europäischer Ebene werde diesen Trend verstärken.
Die logische Konsequenz: Wenn die Bundeswehr wirklich eingesetzt wird, dann fast zwangsläufig im Ausland - ob zur Bündnisverteidigung oder zum Krisenmanagement. Zugleich: Ein Einsatz im Rahmen der Bündnisverteidigung würde voraussichtlich größer ausfallen, wäre aber unwahrscheinlicher und relativ kurz. Die Streitkräfte der NATO sind allen potentiellen Angreifern weit überlegen. Über militärisches Krisenmanagement wird dagegen häufiger zu entscheiden sein. Der deutsche Beitrag könnte hier kleiner ausfallen, würde aber oft auf längere Zeit erforderlich sein. Und: Jene technischen und logistischen Fähigkeiten, die man zur Bündnisverteidigung benötigt, wären für ein militärisches Krisenmanagements jederzeit ausreichend.
Beide Konzepte mussten sich deshalb mit dem Vorwurf des "Interventionismus" auseinandersetzen, obwohl sie für Kriseneinsätze zwar weniger Soldaten wohl aber einen größeren prozentualen Anteil der Bundeswehr vorsahen als die Konzepte aus dem Verteidigungsministerium. Und obwohl sie solche Einsätze in einer begrenzteren Geographie befürworteten als des Ministers Generale, die bis heute auch signifikante Kapazitäten für weiter entfernte Operationen bereithalten wollen.
Kommission und Grüne wurden kritisiert, weil sie - ohne Umschweife - aufgewiesen hatten, vor welchen Aufgaben die in NATO und EU eingebundene Bundeswehr wahrscheinlich gestellt sein wird und über welche Formen von Bundeswehreinsätzen deutsche Politik künftig am häufigsten entscheiden muss. Dennoch war die Kritik nicht ganz unberechtigt. Schließlich hatten beide die wichtigste Folge einer solchen realistischen Analyse weitgehend ausgeblendet. Wenn die Bundeswehr der Zukunft von ihrer Struktur her Interventionen erlaubt, dann gewinnt eine Frage an Gewicht, der sich deutsche Politik in den vergangenen 50 Jahren - schon aus historischen Gründen - kaum widmen musste: Wann und unter welchen Bedingungen, Umständen und Voraussetzungen darf und soll die Bundeswehr eingesetzt werden? Wann sollte ihr Einsatz unterbleiben?
Diese Gretchenfrage nach der "politischen Einhegung" künftiger Bundeswehreinsätze muss gestellt werden. Es kann nur verwundern, dass sie in jenem Gremium, das Bundeswehreinsätze beschließt und verantwortet, dem Bundestag, bis heute nicht zu einer Kernfrage geworden ist.
Für diese strategische Lücke könnte es verschiedene Gründe geben. Erstens: Sie ist niemandem aufgefallen. Das wäre ein Armutszeugnis für die Demokratie in Deutschland. Die Legislative kann eine solche Frage einfach nicht ausklammern. Zweitens: Die Frage ist zu heikel und zu komplex. Man fürchtet, es gäbe keine allgemeingültige Antwort. Dies wäre teils verständlich, würde aber nicht erklären, warum nicht einmal an verallgemeinerbaren Kriterien gearbeitet wird, die auf jede Entscheidung über einen Bundeswehreinsatz angewendet werden könnten. Drittens: Es gibt ein Interesse, keine Antwort zu geben. Dies wäre spannend. Und: Es gibt Hinweise, dass es sich genau so verhält.
Welches Interesse könnte eine Antwort unklug erscheinen lassen? Eine Episode soll helfen. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit wurde die Gretchenfrage künftiger deutscher Sicherheitspolitik erstmals gestellt und ein Antwortversuch unternommen. Es war der Bundesvorstand der Bündnisgrünen, der sich dieses Themas annahm. In dem Bestreben, klare politische Grenzen für Interventionen zu formulieren, einigte man sich, dass Kriterien nötig seien, damit "die Bundeswehr nicht im Kontext klassischer Interventionen" oder aus falsch verstandener Nibelungentreue im Rahmen militärischer Bündnisse eingesetzt werden könne. Klare Kriterien trügen "auch dazu bei, dass der Beitrag der Bundeswehr zu den übergeordneten Zielen der Gewaltvermeidung und Gewaltminderung gewährleistet bleibt", dass Aktionen ohne UN-Mandat wie die NATO-Luftangriffe gegen Jugoslawien "eine einmalige Ausnahme bleiben".
Zu den Kriterien, die diskutiert und beschlossen wurden, gehört unter anderem, dass ein Bundeswehreinsatz nur in Frage kommt, wenn alle Mittel nicht-militärischer Krisen- und Konfliktbewältigung Vorrang hatten, ausgeschöpft sind und der Einsatz
- in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen, dem Völkerrecht und der Verpflichtung zum Schutz der Menschenrechte steht;
- mit einem Mandat der Vereinten Nationen erfolgt
- ein eindeutig definiertes Ziel hat, räumlich und dem Umfang nach begrenzt und zeitlich überschaubar - mit klarer Exit-Strategie - ist
- durch eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages gebilligt wird und somit "Vorratsbeschlüsse" - wie 1998/99 im Falle des Kosovo - nicht mehr gefällt werden;
- multinational durchgeführt wird und die Verhältnismäßigkeit der Mittel klar gewahrt bleibt.
Das zweifellos wichtigste Kriterium neben dem UN-Mandat ist die Zweidrittelmehrheit des Bundestages. Die gilt bekanntlich auch im Verteidigungsfall und ist eine Rückversicherung auf breite gesellschaftliche Akzeptanz und gegen kurzatmige - aus aktuellem Regierungshandeln geborene - Versuche, populistisch mit Bundeswehreinsätzen Tagespolitik zu machen. An diesem Kriterium der Zweidrittelmehrheit hängen Umfang, Zeitplan, Ziel und Begründungslogik aller möglichen Einsätze.
Und dann die Überraschung: Die Bundestagsfraktion der Bündnisgrünen ändert genau diesen Passus, hält eine einfache Mehrheit für hinreichend. Man fragt sich, ob die Anregung dazu aus dem Außen- oder aus dem Verteidigungsministerium kam. Die tagespolitische Handlungsfreiheit der Regierung müsse erhalten bleiben. Vor exakt dieser entscheidenden Weiterung sind bislang sogar CDU/CSU und FDP zurückgeschreckt, was auch logisch ist, denn: Kriterien, dafür, wann die Bundeswehr militärisch zum Einsatz komme und wann nicht, sind nicht wünschenswert, weil sie das Regierungshandeln innenpolitisch beschränken könnten. Deshalb sollten sie gar nicht erst aufgestellt werden. So utilitaristisch wird diese Frage bislang nur in den USA diskutiert.
Allein, die Bündnisgrünen haben sich der Frage angenommen. Sie werden sie weiter diskutieren. An diesem Wochenende zum Beispiel, während ihrer Bundesdelegiertenkonferenz. Man darf gespannt sein, ob die Bundestagsfraktion ihre Position überhaupt zur Abstimmung stellt - oder ganz einfach mit "einfacher Mehrheit" regiert.
Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit
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