Potemkins tragischer Stolz

DIE LETZTE BOTSCHAFT DER »KURSK« Das Ausmaß der eigenen Schwäche gehört zu den besonders geschützten Geheimnissen der russischen Marine

Was wurde da eigentlich gespielt? »Jagd auf Roter Oktober - Teil 2«? Ein neuer James Bond? Wer hat sich die Spielfilmrechte an diesem Ereignis gesichert, wer die Akteure instruiert? Warum gab die russische Marine den Verlust der Kursk erst zwei Tage nach deren Untergang bekannt? Warum gab es soviel widersprüchliche und widersprüchlichste Meldungen zum Hergang des Unglücks, dem Ausmaß des Schadens, zu den Überlebens chancen der Besatzung? Warum schließlich die Verzögerungen, als die westlichen Helfer vor Ort waren? Warum dauerte es weitere zwölf Stunden, bis die russische Marine das Seegebiet über der Unglücksstelle geräumt hatte? Warum die unterschiedlichen Aussagen darüber, ob die verbliebene Rettungsluke zu öffnen sei oder nicht? Lediglich Chaos bei Rettungsversuchen und Pressearbeit? Gezielte Desinformation? Untaugliche Versuche, Fehler zu vertuschen - oder von allem etwas?

Tatsache ist: Der Stolz Russlands - die Marine - hat sich mit Händen und Füßen und bis zuletzt gegen die Einbeziehung westlicher Experten gewehrt, um ihre Geheimnisse und ihren Mythos zu wahren. Die Boote der Oskar-II-Klasse gehören zu den modernsten Russlands und bergen etliche, noch geheime Beweise russischer Ingenieurskunst und manches schützenswerte (waffen)technologische Geheimnis. Noch auf Jahre werden sie das Rückgrat der russischen Flotte sein.

Aber die Marine ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Von Ersatzteil- und Ausbildungsmängeln bis hin zur Seeuntauglichkeit geplagt. Belege dafür sind nicht Mangelware, sondern tägliche Normalität: Mitte der neunziger Jahre löste die Marine ihre Tiefseetaucher-Einheit bei der Nordmeerflotte auf, die sie jetzt so dringlich gebraucht hätte. Die modernsten russischen Rettungsschiffe blieben während der Kursk-Havarie im Hafen, da ihnen Ersatzteile im Wert von wenigen hundert oder tausend Mark fehlen. Mehrfach musste die Marine in den vergangen Jahren zu Lande ausrücken - ihr Gegner waren die örtlichen Elektrizitätswerke. Sie hatten aufgrund unbezahlter Rechnungen einfach den Strom abgestellt. Der aber durfte nicht ausfallen, weil er zum Betrieb der Notkühlung für die U-Bootreaktoren in den russischen Häfen unentbehrlich ist.

Allerdings: Gerade auch der Zustand eigener Schwäche gehört zu den geschützten Geheimnissen der russischen Marine. Sie gleicht in vielem inzwischen einem Potemkinschen Dorf. Die Nordmeerflotte kann sich glücklich schätzen, wenn sie in der Lage ist, ein oder zwei ihrer strategischen Raketen-U-Boote auf See zu schicken.

Doch mit ihrer Geheimniskrämerei stehen die russischen Admiräle nicht allein. U-Bootfahrer aus aller Herren Länder neigen oft zu fast paranoid anmutender Geheimhaltung. Um U-Boote ranken sich Gerüchte, Geschichten, Mythen, als seien sie USOs - tauchende zweieiige Zwillinge von UFOs. Die USA geben nicht einmal öffentlich Auskunft darüber, wo sich ihre Boote jeweils gerade befinden. Auch nicht, wenn eine solche Auskunft Gerüchten über eine tödliche Kollision - wie im Falle der Kursk - begründet den Boden entziehen könnte. (Letztlich kann deshalb eine Kollision als Unfallursache zur Zeit nicht gesichert ausgeschlossen werden.)

Tatsache ist: Russische und westliche U-Boote haben auch nach Ende des Kalten Krieges ihre langjährige Praxis unterseeischer Verfolgungsjagden nicht aufgegeben. Wann immer eines der fahrtüchtigen russischen U-Boote seinen Heimathafen verlässt, warten die westlichen Häscher schon auf die Gelegenheit zu praxisnahem Training. Dies birgt die Gefahr von Zusammenstößen - zuletzt kollidierten Amerikaner und Russen 1993. Es ist kaum vorstellbar, dass sich jetzt - ausgerechnet bei einem der selten gewordenen und lange angekündigten Großmanöver der russischen Marine - kein westlicher Verfolger an die Fersen der russischen Boote heftete. Zwei Tage nach dem Unglück waren nach Angaben der US-Navy rund die Hälfte aller US-U-Boote - 25 Schiffe - auf See. 14 in ihrem Einsatzgebiet, davon angeblich nur zwei in der Barentssee. Sie sollen - so die wiederholte Auskunft - mit dem Geschehen nichts zu tun haben.

Ist Wladimir Putin nun bis auf weiteres Russlands neuer schwacher Mann? Wird seine Autorität dauerhaft leiden? Vieles spricht dafür, dass die Marine den Präsidenten und Oberbefehlshaber der Streitkräfte zunächst nicht umfassend über das Ausmaß der Katastrophe oder die eigene Unfähigkeit zum Umgang damit informierte. Vielleicht, weil sie fürchtete, beim derzeitigen Poker um die begrenzten Ressourcen des Verteidigungshaushaltes künftig mit schlechteren Karten dazustehen. Vielleicht lautete die Schlussfolgerung aus Boris Jelzins Zeiten: Keine Nachricht für den Zaren ist besser als eine schlechte Nachricht.

Welche Konsequenzen wird der Kreml aus den Vorgängen um die Kursk ziehen ? Innen- wie außenpolitisch? Nimmt der Präsident das U-Boot-Drama sowie den Streit über die Militärreform zum Anlass, um in den Streitkräften für ein machtpolitisches Revirement zu sorgen? Beginnt nach erfolgreich bestandener Fehde mit Oligarchen und Föderationsrat der Machtkampf mit einer dritten etablierten Säule des Erbes, das ihm Boris Jelzin hinterließ? Und außenpolitisch: Ist Wladimir Putin bereit, mit einem Kernelement russischer Symbolik zu brechen, der Vorstellung, dass Russland auch weiterhin in der Lage ist, jedwedes Problem, jedwede Katastrophe autark - sozusagen mit Bordmitteln - zu beherrschen?

Konsequenzen für das militärische Führungspersonal dürften äußerst wahrscheinlich sein. Ihr Umfang bleibt abzuwarten. Konsequenzen in der Außenpolitik, in der Kooperation mit dem Westen, insbesondere im Hinblick auf die enormen Gefahren, die von Russlands nuklearem Erbe des Kalten Krieges ausgehen, wären wünschenswert. Käme es dazu, dann wäre aber auch von den westlichen Industriestaaten, der NATO und EU ein veränderter Umgang mit Russland erforderlich. Seit Jahren existieren sinnvolle Programme wie das amerikanische Cooperative Threat Reduction Program, die oft deshalb nicht von der Stelle kommen, weil sie von großem gegenseitigen Misstrauen geprägt sind. In Russland herrscht die Wahrnehmung vor, der Westen betrachte die Programme als Mittel, Russland einseitig abzurüsten oder auszuspionieren. Im Westen kursiert die Auffassung, Russlands Militärs - besonders auch die Admiräle der von unglaublichen atomaren Erblasten geplagten Nordmeerflotte - nutzten die Zusammenarbeit lediglich, um schnell und billig an viel Geld zu kommen, dass ihnen der eigene Staat nicht mehr zur Verfügung stellen könne.

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit.

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