Ein Gespenst geht um in Europa. Politiker ohne Zukunftsvision, aber den Massen im Rücken, rufen entsetzt: "Hilfe! Die Türken kommen!" Mit ihrer Phobie vor dem "Anderen" weigern sie sich, diesen entfernten Verwandten, der unablässig an die Tür des gemeinsamen Hauses Europa anklopft, in die Familie aufzunehmen.
Die Gründe der Angst und der Ablehnung sind leicht zu benennen: die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die wegen der Mitgliedschaft der Türkei zu erwartende finanzielle Last der Gemeinschaft, Probleme die durch die Freizügigkeit der Arbeitsplatzwahl entstehen könnten, die Größe der Bevölkerung und viele andere mehr. Der unausgesprochene und tiefer gehende Grund ist aber natürlich der kulturell-religiöse Unterschied.
Können Millionen ähnlich denkende Durchschnittseuropäer und die politischen Kreise, die diese Ängste schüren, Unrecht haben? Hätte ich die zwölf Jahre nach dem Militärputsch am 12. September 1980 nicht als politischer Flüchtling in Deutschland verbracht, hätte ich keine Möglichkeit, den Kampf der Kulturen vor Ort und Stelle zu beobachten, wäre ich keine Türkin, hätte ich die Türkei nicht gut genug gekannt und würde unser Kalender nicht das Ende des Jahres 2004 ankündigen, hätte ich diese Frage mit "Ja, sie haben Recht!" beantwortet.
Aber ich habe, dank meiner westorientierten Erziehung aus der Kindheit, (ich besuchte eine französische, katholische Schule), dank der langen Jahre, die ich in europäischen Ländern verbringen durfte (ein Drittel meines Erwachsenenlebens), dank meiner Arbeitsstellen und Freunde, die ich kennen gelernt habe, und dank meines Berufes, ich bin Soziologin, beide Kulturen aus der Nähe betrachten können. Ich wuchs in beiden Kulturen auf und meine Persönlichkeit wurde von einer Mischung dieser Kulturen geprägt. Ich komme sowohl aus der Türkei als auch aus Westeuropa. Es kann sein, dass meine westeuropäische Seite sogar ein wenig überwiegt.
Als ich 1980 nach West-Deutschland kam und Deutsche aus ganz unterschiedlichen, insbesondere aus linken Kreisen kennen lernte, fiel mir als Erstes auf, dass durchschnittliche deutsche Intellektuelle im Vergleich zum durchschnittlichen türkischen Intellektuellen nicht nur in der Kenntnis des Marxismus und ähnlicher Themen, sondern auch in ihrer Allgemeinkultur viel oberflächlicher erschienen. Ihr globales Interesse an den Dingen dieser Welt war gering und, abgesehen von ihrem engeren Berufsthema, meist auf Europa begrenzt. Zuerst war ich überrascht. Dann dachte ich, dass orientalische und türkische Intellektuelle, sich von ihren Hemmungen vor Europa, der Angewohnheit, die westliche Kultur zu verherrlichen und von ihren Minderwertigkeitskomplexen nicht befreien konnten.
Die Reaktionen meiner deutschen Freunde waren auch interessant; von den Marxisten bis zu den Grünen, von den Liberalintellektuellen bis zu meinen deutschen Arbeitskollegen, reagierten fast alle mit einer nicht böse gemeinten Verwunderung, dass eine Frau aus der Türkei sich über wichtige Themen ernste Gedanken gemacht hatte, sie sogar manchmal (ich schäme mich zwar ein bisschen wegen dieses Selbstlobs, aber sogar öfters) auf eine ihnen unbekannte Quelle oder Idee hingewiesen hat. "Frau Baydar, wirklich unglaublich! Ich hätte gern den Text gelesen." Mein Deutsch war nicht gerade gut. Ich ergriff jede Möglichkeit Französisch zu sprechen, sobald ich jemanden fand. Aber meine deutschen Freunde lobten mein Einwanderer-Deutsch über den grünen Klee: "Sie sprechen aber sehr gut Frau Baydar!" Sie nahmen bei ihrer Beurteilung ein anderes Maß, das Maß "Bon pour l´orient - gut genug für den Orient!"
Die Intellektuellen, ausgenommen unsere Nachbarn, die uns gegenüber wohnten, ein Arbeiterehepaar in Ruhestand, drückten ihr Lob und ihre Liebe damit aus, indem sie uns sagten "dass wir ja gar nicht türkisch aussehen". Unsere kleine Familie machte sogar aus der Frage nach unserer Herkunft ein Ratespiel, und wir amüsierten uns köstlich. Die Nachbarn und Freunde kamen von Belgien bis Portugal und von Brasilien bis Italien fast auf alle Länder, aber nicht auf die Türkei. Als wir dann aber sagten, dass wir aus der Türkei kommen, erlebten wir eine ehrlich gemeinte Verwunderung.
Kann man sich über sie ärgern? Ihr Türkenbild wurde geformt durch die Bekanntschaft mit Menschen, die seit den sechziger Jahren als Arbeitssuchende aus den ländlichen Regionen der Türkei kamen, in den Mühlen des deutschen Kapitalismus zermahlt wurden und in Ghettos lebten. Es ist zwar bitter, aber ich muss eingestehen, dass diese Menschen meiner täglichen Lebenskultur genauso fremd waren. Mit einem Unterschied: ich kannte die Türkei und ihre Menschen und wusste, dass der Grund ihres "Ausländer"-seins und Andersseins die Klassenunterschiede und die regionalen Unterschiede waren. Ich merkte, dass die Türken, denen meine deutschen Freunde auf der Straße, dem Markt, dem Parkplatz, den Arbeitsplätzen oder zu Hause begegneten, wegen ihren Integrationsprobleme und Diskriminierungen zu einer Karikatur ihrer religiösen und kulturellen Identität geworden waren.
Ich und meinesgleichen, die in Europa von den Europäern, insbesondere in Deutschland, nicht als Türken identifiziert werden können, werden in unserem eigenen Land sehr wohl als Türken identifiziert, wir sind auch keine Ausnahmeerscheinungen und sind auch nicht in der Minderheit. Ich möchte damit zum Ausdruck bringen, dass eine Seite des Problems des europäisch-türkischen Verhältnisses auf einem egozentrischen, hochnäsigen Reflex des alten Europa beruht, der im 21. Jahrhundert seine Bedeutung verloren hat und aus Nichtwissen, Nichtkennen, Vorurteilen, Ängsten vor "dem Anderen" besteht - der gemeinsamen Schwäche aller Völker.
Aber das Problem hat natürlich noch eine andere Dimension. Ja, wir kommen aus unterschiedlichen Kulturen. Aber welche Kulturen sind damit gemeint? Nach einer einfachen Definition, die die türkische politische und kulturelle Geschichte nicht kennt, könnte man sagen, aus der orientalisch-islamischen Kultur, oder, sogar noch einen Schritt weiter, aus der türkisch-islamischen Kultur. Ein berühmter türkischer Faschist antwortete mit Zorn auf die Bemerkung, dass die Türkei ein reiches Kulturmosaik habe: "Was für ein Mosaik, es ist doch eindeutig Marmor." Obwohl die Türkei des 21. Jahrhunderts mehrere wertvolle Steine dieses Mosaiks eingebüßt hat, besteht sie immer noch aus einem Kulturmosaik, das die Spuren und Farben mehreren Kulturen trägt, wobei diese Tatsache von türkischen Konservativen, Reaktionären, chauvinistischen Nationalisten und Faschisten verleugnet wird, genauso wie von manchen Gruppierungen in Europa.
Jedoch sind die Vielfalt, aber auch die Widersprüche, von der alltäglichen Lebenskultur bis zur Volkskultur, von der religiösen Kultur bis zur Kunst, Literatur und Leitkultur, ja bis zur Weltanschauung und zum Glauben weitaus größer als in irgendeinem anderen europäischen Land. In der Türkei existiert fünf, zehn, vielleicht sogar 50 Mal die Türkei. Denn dieses Land hat sich auf den Fundamenten eines Reiches erhoben, das als Erbe von Byzanz galt. Die Türkei wuchs aus den Konfessionen des Ostchristentums nach der Annäherung an den Islam, entwickelte sich unter den Einflüssen von Schamanismus und arabischen Islamismus. Sie ist ein kultureller Bau, der aus einer Mischung von unterschiedlichen Lebenskulturen der teilweise aus dem Balkan, aus Rumänien, der Krim und dem Kaukasus zugewanderten Völker, aus Türken, Kurden, Lazen, Tscherkessen, Albanern, Griechen, Armeniern, Juden, Altsyrern und vielen anderen besteht. Wenn man noch dazu die regionalen und klassenbedingten Kulturunterschiede berücksichtigt, haben wir eine Türkei, die aus mehreren Teilen besteht: Ein Land, das seit 150 Jahren stets westorientiert ist, seine Identität in Westen sucht, zur gleichen Zeit aber den gravierenden Fehler macht, seine eigene kulturelle Vielfalt nicht auszuschöpfen und deren Wert gering zu schätzen.
Eine Metropole wie Istanbul ist in Bezug auf Lebensstil und Kultur westlicher als die Städte in dem wiedervereinten Deutschland, europäischer als manche Städte in Spanien, Portugal oder Griechenland, vor allem aber westlicher als die meisten Städte in den neuen Mitgliedsländern aus Osteuropa. In den Ghettos der Städte an der Ägäis und am Mittelmeer dagegen wohnen Zuwanderer aus weit entfernten Teilen Anatoliens, Menschen aus einer anderen Welt, Träger eines vollkommenen anderen Kultur- und Wertesystems. In Südostanatolien leben viele Kurden, für deren Armut und Diskriminierung ich mich als türkische Intellektuelle immer geschämt habe. Deren Wunsch und Enthusiasmus, ein Teil von Europa zu sein, hat in den letzten Jahren einen Prozess der Freiheit und der Sprengung von Ketten in Gang gesetzt und die Begeisterung über die Entfaltung der eigenen Sprache und Kultur entfaltet. Da haben wir eine weitere Türkei und eine weitere Kultur.
In dieser Türkei herrscht also eine kulturelle Vielfalt, die den europäischen Nationalstaaten, die sich noch im Einigungsprozess der Europäischen Union befinden, fremd ist. Es ist zu verstehen, dass diese Vielfalt einerseits furchterregend ist, sie ist jedoch gleichzeitig zukunftsorientiert, bereichernd, schöpferisch, bewegend und dynamisch. In dieser kulturellen Vielfalt sind viele europäische Werte vorhanden, aber auch solche, die mit diesen Werten in Konflikt stehen.
Ein Land, das seit 150 Jahren auf dem Weg nach Europa ist, hat natürlich ein Lebensstil und viele Werte entwickelt, die mit der europäischen Kultur verflochten sind. Es gibt Bereiche, wo diese Ziele erreicht und sogar übertroffen wurden, aber auch Bereiche, wo man diesen Zielen noch hinterher läuft. Zwar werden gemäß der islamischen Kultur in der Türkei Opfertiere geschlachtet. Doch auch in Spanien haben die Überreste der Blutkultur bei den Stierkämpfen überlebt. Es gibt noch immer den Ehrenmord in Südostanatolien, der aber nach den neusten gesetzlichen Regelungen inzwischen mit der Höchststrafe geahndet wird. Aber gibt es nicht auch noch seine italienische Version, die "vendetta" oder Abtreibungsverbote und katholische Ehen, die nur mit dem Tode aufgelöst werden können? Ich frage mich, wie all dies mit der Freiheit der Frau zu vereinbaren ist? Ausgenommen die Gemeinsamkeit des Christentums, was unterscheidet den zypriotischen, griechischen, bulgarischen, portugiesischen oder spanischen Bauer grundsätzlich von dem türkischen Bauern? Wenn die Europäische Union sich als eine Union aller Werte der europäischen Kultur sehen möchte, ist sie dann nicht verpflichtet sich von den negativen Überresten der eigenen Kultur zu säubern und diese mit neuen kulturellen Werten zu ersetzen und sich mit der Farbenvielfalt des kulturellen Mosaiks zu schmücken?
Wird sich das zukünftige Europa in der Welt von morgen mit einer politischen und wirtschaftlichen Überlegenheit begnügen, das nicht an dem Status quo rüttelt, oder wird es sich mit den wesentlichen Problemen des 21. Jahrhunderts auseinander setzen und unsere Erde ein Schritt nach vorne bringen? Dies ist die eigentlich wichtige Frage. Die Antwort darauf lautet: wir müssen die zentralistischen europäische Vorurteile überwinden und uns mit den Beiträgen unterschiedlicher Kulturen eine neue friedliche, freiheitliche, gerechte und humane Kultur schaffen.
Oya Baydar, Jahrgang 1940, lebt als Schriftstellerin in Istanbul. 2001 erhielt sie den Orhan Kemal Literaturpreis.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.