Warten auf das letzte Gefecht

Bagdad im Ausnahmezustand Im vierten Jahr der Besatzung ist den US-Truppen die Kontrolle über die großen Schiiten- und Sunniten-Viertel längst entglitten

Präsident Bush sei bei seiner Irak-Politik die Ideologie wichtiger als eine Analyse der tatsächlichen Verhältnisse, halten ihm Kritiker vor. Diese Realitätsabstinenz zeigt sich nicht zuletzt bei der begonnenen Aufstockung des US-Irak-Korps, mit der offenbar eine Entscheidungsschlacht erzwungen werden soll. Würde dabei die Kampfkraft schiitischer und sunnitischer Milizen für alle Welt sichtbar gebrochen, könnte George Bush einen Truppenrückzug einleiten, ohne die ganz große Niederlage einstecken zu müssen. Die Absicht Tony Blairs, das britische Irak-Kontingent zu reduzieren, lässt keinen Zweifel - die Zeit der Exit-Strategien hat begonnen.

Es ist der absolute Alptraum für Autofahrer in der irakischen Hauptstadt, plötzlich vor einem improvisierten Checkpoint zu stehen, von Schwerbewaffneten in zivil zum Aussteigen genötigt und misshandelt oder gar erschossen zu werden, weil die Religion nicht stimmt. In einigen Vierteln sind derartige Geschehnisse alltäglich und ein solcher Horror, dass sie das Vorstellungsvermögen von George Bush und Tony Blair vermutlich gewaltig überfordern.

Vor einigen Tagen standen schwarze Rauchsäulen über dem Stadtzentrum, als amerikanische Verbände und irakische Regierungstruppen versuchten, sich in den Rebellenbezirk der Haifa Street vorzukämpfen, nur eine Meile von der Grünen Zone entfernt, in der sämtliche Ministerien der Regierung von Premier al-Maliki Schutz suchen, aber auch der amerikanische und britische Botschafter residieren. Auf der Jagd nach Heckenschützen flogen Helikopter niedrig und schnell über die Haifa Street hinweg, während unter ihnen gepanzerte Fahrzeuge manövrierten. - "Auch wenn es noch 16.000 Amerikaner mehr sein werden, sie dürften nicht reichen, um die Ordnung in Bagdad wiederherzustellen", glaubt Ismail, ein Sunnit, der aus seinem Haus in der Weststadt geflohen ist, weil er Angst davor hat, von einem der rücksichtslosen schiitischen Polizeikommandos festgenommen und gefoltert zu werden.

Es ist wirklich erstaunlich, wie wenig die US-Streitkräfte, fast vier Jahre nach der Einnahme Bagdads diese Stadt unter Kontrolle haben. Wenn George Bush davon spricht, die Aufständischen aus ihren Festungen zu treiben und dafür zu sorgen, dass sie nicht mehr zurückkehren - es klingt bei aller martialischen Rhetorik wenig erfolgversprechend. Wer diese Viertel durchkämmt, der muss nicht nur mit erheblichen Verlusten rechnen - der kann sein Programm des Search and Destroy nur durchziehen, wenn die gesamte Bevölkerung zumindest vorübergehend evakuiert wird.

Gerade ist ein Helikopter der amerikanischen Sicherheitsfirma Blackwater über der Sunniten-Hochburg al-Fadhil abgeschossen worden, ein Distrikt in Tuchfühlung zum Zentralen Markt. Zwei oder drei der fünf Besatzungsmitglieder sollen den Absturz überlebt haben, später werden sie mit Gewehrkugeln im Kopf tot aufgefunden. Es sieht nach einer Hinrichtung vor Ort aus.

Kein Zweifel, Bagdad ist zu einer in feindliche Townships geteilten Stadt geworden. Hier Sunniten, dort Schiiten. Fremden wird mit Misstrauen begegnet. Wer nicht erklären kann, was er will und warum, wird niedergeschossen. Aus dem militanten sunnitischen Quartier al-Amariyah in West-Bagdad werden die Schiiten vertrieben, ein wiederauferstandener Ableger der Baath-Partei hat dort die Macht übernommen. Slogans, in roter Farbe an Hauswände gemalt, verkünden grimmig: "Saddam Hussein lebt für immer - als Symbol der arabischen Nation". Oder: "Tod für Muqtada und seine Idiotenarmee" (*).

Wenn du dich weigerst

In jenen Stadtteilen, in denen ich früher oft und gern zu Mittag aß - etwa im Botschaftsviertel al-Mansur - ist ein Restaurantbesuch mittlerweile viel zu gefährlich. Wer sich als Fremder in diese Gegend wagt, läuft Gefahr, entführt oder getötet zu werden. Die meisten Lokale haben ohnehin längst aufgegeben.

Wohl für jeden Iraker ist es schwer, in diesem existenziellen Konflikt neutral zu bleiben. Ein sunnitischer Freund, der Adnan genannt wird und im benachbarten Bezirk al-Adel wohnt, bekam eines Tages Besuch von sunnitischen Milizionären. Sie sagten: "Hilf uns, damit wir uns gegen die Schiiten von Hurriya wehren können. Geh´ mit uns auf Patrouille. Wenn du dich weigerst, geben wir dein Haus jemandem, der tut, was wir verlangen." Mehrere Nächte ging Adnan, an seine Kalaschnikow geklammert, mit auf Streife, bevor er seine Straße für immer verließ.

Es kursieren Gerüchte, der Stadt würden Gefechte bevorstehen, die blutiger sein werden als je zuvor. Vor zwei Wochen glaubten viele Sunniten, die schiitische Mahdi-Armee Muqtada al-Sadrs stehe kurz vor dem Endkampf - der finalen "Schlacht um Bagdad", um die sunnitische Minderheit zu vertreiben oder zu töten. Die Bedrohten horteten Waffen und Munition, um ihre Viertel in einem letzten verzweifelten Kraftakt zu verteidigen - doch das letzte Gefecht verzögert sich offenbar.

Die Amerikaner können in dieser Lage nichts Dümmeres tun, als die schiitischen Milizen mit dem Iran gleichzusetzen. Tatsächlich ist die mächtigste der schiitischen Formationen, eben besagte Mahdi-Armee, traditionell antiiranisch, während ausgerechnet die Badr-Organisation, die inzwischen mit den US-Streitkräften kooperiert, von den iranischen Revolutionsgarden aufgebaut und trainiert worden ist. Aber George Bush will im Irak auf die Unterstützung sunnitischer Länder wie Saudi-Arabien, Ägypten und Jordanien bauen können, folglich übertreibt er die iranische Bedrohung.

Schulterklopfen in Baquba

Eine andere Frage, die sich die Iraker stellen: Was wird aus den ländlichen Bezirken, sollten sich die Amerikaner darauf konzentrieren, Bagdad zu sichern? Das Ausmaß der Gewalt jenseits der Städte wird oft bagatellisiert, weil es aus den betroffenen Regionen sehr viel weniger Berichte gibt. Beispiel Baquba, die Hauptstadt der Provinz Diyala nordöstlich von Bagdad - dort klopfen sich auf einer Pressekonferenz amerikanische und irakische Kommandeure gegenseitig auf die Schulter. Die Situation in Baquba sei ermutigend und unter Kontrolle, allerdings gäbe es einige üble Leute, die Gerüchte streuen. Nur Stunden nach diesem euphorischen Meeting kidnappen Aufständische den Bürgermeister und jagen sein Büro in die Luft.

Nicht viel besser ergeht es der heiligen (Schiiten-)Stadt Kerbala, wo vor einer Woche fünf Amerikaner ums Leben kamen, als eine Todesschwadron angriff, deren Mitglieder amerikanische und irakische Uniformen trugen, US-Waffen gebrauchten und in Fahrzeugen unterwegs waren, wie sie ansonsten die US-Armee benutzt. Eines davon konnte identifiziert werden: Es trug ein Kennzeichen des Handelsministeriums in Bagdad. Bei alldem weiß das US-Oberkommando bis heute nicht, ob die eigenen Männer nun Opfer von schiitischen oder sunnitischen Aufständischen wurden.

Soviel scheint sicher, sowohl die US-Truppen wie auch die Mahdi-Armee scheuen derzeit die große, finale Konfrontation in Bagdad und warten ab. Es fehlt der Besatzungsmacht an der nötigen Überlegenheit, um Muqtada al-Sadrs Schiiten-Milizen zu eliminieren, denn selbst die verbündeten kurdischen Einheiten leiden unter einer hohen Zahl von Desertionen. Sollte die Mahdi-Armee in der Hauptstadt ernsthaft unter Druck geraten, würde sie zur Entlastung vermutlich große Regionen im Südirak, dem Kommandobezirk der Briten, unter ihre Kontrolle bringen.

Was George Bush unter diesen Umständen als neue Strategie vorschwebt, ist weniger eine Strategie als vielmehr eine Ansammlung taktischer Ansätze. Höchst unwahrscheinlich, dass sich dadurch irgendetwas dramatisch ändert. Sollte sich die fortgesetzte Dämonisierung des Iran freilich in Luftschlägen oder in anderen Militäroperationen gegen Teheran entladen, werden auch in diesem Fall die Iraker wieder einen hohen Preis zahlen müssen.

(*) Gemeint ist die so genannte Mahdi-Armee des schiitischen Predigers Muqtada al-Sadr.


Im Irak getötete Personen zwischen April 2003 und Dezember 2006

(Auswahl nach Städten)

StadtUS-Armee und VerbündeteIrakische SicherheitskräfteZivilisten

Bagdad76579530.356

Kerbala29311.046

Nadschaf2927878

Basra87631.781

Salahuddin2922641.609

Kirkuk471991.096

Niniveh1932671.624


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