„Die Klimaleugnung 2.0 lautet: Der Klimawandel liegt in der Verantwortung jedes einzelnen“
Mai Thi Nguyen-Kim im Gespräch Die promovierte Chemikerin, Wissenschaftsjournalistin und Youtuberin glaubt daran, dass wir die grüne Transformation schaffen. Warum alles andere unvernünftig wäre, erklärt sie hier
Dank Corona steht „die Wissenschaft“ im Fokus wie noch nie. Das führt dazu, dass wir über immer mehr Dinge immer mehr wissen. Und es entfacht neue Konflikte darüber, wie das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft aussehen soll. Ist das ein Fortschritt auch für den Umgang mit der Klimakrise? Oder ein Rückschlag?
der Freitag: Frau Nguyen-Kim, vor drei Jahren haben Sie noch lustige Kurzvideos über Fluoride in Zahnpasta gedreht. Heute – eine Pandemie später – sind Sie für viele Menschen in Deutschland „das Gesicht der Wissenschaft“, für einige wenige auch so was wie die rechte Hand von Bill Gates. Wie fühlt sich das an?
Mai Thi Nguyen-Kim: Ich versuche, über Letzteres nicht so viel nach
Mai Thi Nguyen-Kim: Ich versuche, über Letzteres nicht so viel nachzudenken. Aber manchmal wirkt es in den Medien so, als gäbe es nur mehr Querdenker auf der einen Seite und auf der anderen die große Bill-Gates-Verschwörung. So ist es nicht: Ich glaube immer noch an die Vernunft der großen Mehrheit.Würden Sie sagen: Die Wissenschaft ist dem Menschen zumutbar?Ja, davon war ich schon vor Corona überzeugt. Auch wenn ich das erst mit der Zeit rausgefunden habe. Als ich anfing, Wissenschaftsvideos zu machen, dachte ich: Länger als drei Minuten guckt sich so was ohnehin niemand an. Aber bald wurde mir klar: Das stimmt nicht. Als ich thematisch mehr das behandelt habe, was mich selbst interessierte, die Videos länger wurden, mit mehr Tiefgang, stellte sich heraus: Die Leute sind total dankbar. Wenn sie sich schon mal zwanzig Minuten Zeit nehmen für ein Thema, dann wollen sie es auch ganz genau wissen.Dank Corona ist Wissenschaft so unmittelbar gesellschaftlich relevant geworden wie wohl noch nie. Feiern Sie das? Endlich diskutieren wir alle über Furinspaltstellen und Nukleokapside!Ich erinnere mich noch, wie ich im Frühjahr 2020 jeden Tag mit Lars, meinem Mitarbeiter, telefoniert habe: Wir haben uns Riesensorgen gemacht wegen der Pandemie, und zugleich fanden wir es toll, wie viel auf einmal über Wissenschaft gesprochen wurde. Inzwischen würde ich sagen, dass ich damals sehr naiv war.Placeholder infobox-1In Bezug worauf?Vor Corona dachte ich: Was der Wissenschaft fehlt, ist Aufmerksamkeit. Hätten wir nur mehr Reichweite und mehr Aufmerksamkeit, dann wäre die Gesellschaft viel aufgeklärter. Heute würde ich sagen, teilweise ist die übergroße Aufmerksamkeit fast kontraproduktiv.Warum?Weil Wissenschaft nicht richtig verstanden werden kann, wenn sie nicht genug Raum und genug Zeit bekommt. Es ist unmöglich, in einer Polittalkshow angemessen über Wissenschaft zu sprechen. Das ist ein „Konfliktkabinett“: Hier eine Wissenschaftlerin, hier jemand mit einer unwissenschaftlichen Gegenposition. Die wenige Redezeit geht dafür drauf, die wissenschaftlich falsche Position zu entkräften. Über die eigentlichen Themen kann man gar nicht sprechen. Heute würde ich sagen: Lieber keine Aufmerksamkeit als eine, die ein falsches, unterkomplexes Bild von Wissenschaft vermittelt.Haben wir denn die Wahl?Vielleicht ist das wie in dem Hype-Zyklus für neue Technologien: Am Anfang gibt es den Gipfel der überzogenen Erwartungen, dann folgt das Tal der Enttäuschung – da sind wir jetzt gerade – und dann arbeitet man sich langsam wieder auf ein Plateau der Produktivität hoch.Hat sich die Wissenschaft in der Coronapandemie zu wenig abgegrenzt gegenüber der Politik?Das kommt aufs Thema an. Bei der Impfpflicht zum Beispiel ist es nicht so einfach, aus naturwissenschaftlicher Perspektive eine klare Empfehlung zu geben, weil das auch und vielleicht sogar in erster Linie eine ethische Frage ist. Aber als es um die Frage ging, Lockdown jetzt oder später, dann war klar: Je früher, desto besser. Weil er dann kürzer dauern muss. Ich finde, es ist die Verantwortung von Wissenschaft, sich da klar zu positionieren und zu sagen: Unsere Schlussfolgerung ist folgende Handlungsempfehlung. Man muss der dann nicht folgen. Aber wenn man ihr nicht folgt, sollte man sich nicht hinter einer wissenschaftlich falschen Position verstecken, sondern sagen: Wir haben andere Gründe, gesellschaftliche, politische, die für uns überwiegen.Sie sagen, in den Medien gebe es in der Behandlung von Wissenschaft eine „Konsens-Diskriminierung“: Der wissenschaftliche Konsens bekommt nicht den Raum, den er verdient, weil Konflikt mehr Quote bringt.Ich finde das vor allem dann problematisch, wenn nicht zwischen Naturwissenschaften und Sozial- oder Geisteswissenschaften unterschieden wird. In der Philosophie gibt es nichts, was ich messen kann, es gibt keine Studien mit Kontroll- und Testgruppen. In einer evidenzbasierten Wissenschaft wie der Virologie schon.Oder den Klimawissenschaften.Auch. In diesen Wissenschaften, wo man mit harten Methoden operiert, da kann man über alles Mögliche streiten, aber nicht über den Konsens. Die Ergebnisse einer guten kontrollierten Studie entkräftet man nicht, indem man sie einfach so in Frage stellt, sondern nur mit einer stärkeren Studie, einer besseren Evidenz.Wie steht es um die „Konsensdiskriminierung“ in der Klimadebatte? Früher hat man Klimawandelleugner als Konflikt-Gegenpart eingeladen. Das macht heute niemand mehr.Ja, es geht nicht mehr darum, ob der Klimawandel existiert oder ob wir Menschen daran schuld sind. Das ist gegessen. Aber jetzt haben wir ein neues Pseudoargument: Klimaschutz kostet zu viel. Dabei ist es hier genau wie bei der Diskussion über den Lockdown: Rasches Handeln kostet am wenigsten, Nichtstun kostet viel mehr.Aus Ihrer Sicht ist unstrittig, was getan werden müsste, um den Klimawandel zu stoppen?Ja. Der Konsens über die Lösungen der Klimakrise besteht im Wesentlichen aus drei Elementen: Erstens ein ausreichend hoher CO2-Preis. Zweitens sozial gerechte Kompensation. Und drittens das Bewusstsein dafür, dass der Markt – in diesem Fall der CO2-Preis – nicht alles regelt, weswegen es flankierende Maßnahmen braucht.Was meinen Sie noch mal mit flankierenden Maßnahmen?Wenn das Benzin teurer wird, kann das nur Lenkungswirkung entfalten, wenn es außer Autos auch andere Alternativen in der Mobilität gibt. Besonders auf dem Land müsste also erst mal der öffentliche Verkehr ausgebaut werden.Es geht also in erster Linie gar nicht darum, dass ich auf Plastikstrohhalme verzichte?Richtig! Die Maßnahmen, die wirklich wirksam sind – Verteuerung des CO2-Ausstoßes, sozial gerechte Abfederung der Folgekosten, flankierende Maßnahmen, wo ein CO2-Preis allein nicht wirkt: Das sind alles politische Maßnahmen. Ich als Einzelperson, ob ich jetzt Lastenrad fahre oder Veganerin werde, habe keinen Einfluss auf sie. Im Grunde besteht die Klimaleugnung 2.0 heute nicht mehr darin, zu sagen: Den Klimawandel gibt es nicht, sondern: Der Klimawandel liegt in der Verantwortung jedes einzelnen.Sie haben vorhin von dem Hype-Zyklus gesprochen: Wo stehen wir da beim Klimaschutz?Ich habe das Gefühl, dass die Forderungen der Klimabewegung, auf die Wissenschaft zu hören, durch Corona einen Rückschlag erlitten haben. Früher hätten doch die meisten Leute, wenn man jetzt nicht gerade Flacherdler war, gesagt: Logisch sollten wir auf die Wissenschaft hören. Jetzt, da wir 80 Millionen Virologen in Deutschland haben, hat sich das Narrativ bei vielen festgesetzt, dass es so was wie „die Wissenschaft“ gar nicht gäbe. Das ist einerseits frustrierend. Andererseits, und ich habe neulich mit Luisa Neubauer darüber gesprochen: Es war auch ein bisschen naiv, dieser Slogan, „Listen to the science“.Glauben Sie, dass wir die Transformation zu einer nachhaltigen und sozial gerechten CO2-freien Gesellschaft schaffen werden?Ich glaube daran, weil es das Vernünftigste ist. Ich denke: Wir können doch nicht so blöd sein, das nicht zu schaffen! Es gibt kein Dilemma: Klimaschutz ist nicht nur das, was uns eine lebenswerte Zukunft beschert, sondern auch wirtschaftlich am günstigsten.