Milo Rau: Appell gegen die „nachhaltige“ Zerstörung des Amazonas-Regenwalds
Boykott-Aufruf Nestlé und Ferrero kaufen sich und ihren KonsumentInnen dank angeblich grüner Zertifikate ein gutes Gewissen: Das ist zynisches Greenwashing, das die Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes und der dort lebenden Menschen befeuert
Unter der Regie von Milo Rau stellen Aktivisten der Landlosenbewegung (MST) und Komödianten des belgischen Nationaltheaters Gent das Massaker von Eldorado dos Carajas nach
Foto: Nelson Almeida/AFP/Getty Images
Im brasilianischen Bundesstaat Pará, nahe der Stadt Marabá, wo am 17. April 1996 auf einer Straße durch den Regenwald des Amazonas 19 Aktivist:innen der Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) anlässlich eines „Marsches für die Landreform“ von der Militärpolizei erschossen wurden, inszenierte Milo Rau im Frühjahr 2023 gemeinsam mit der Landlosenbewegung MST und indigenen Aktivist:innen eine neue Version von Sophokles‘ „Antigone“.
Nun solidarisieren sich Rau und 50 Prominente aus Europa, Brasilien und ganzen Welt mit der Landlosenbewegung MST, die für eine radikale Landreform, eine tatsächlich ökologische Landwirtschaft und gegen die Zerstörung des Regenwalds durch Monokulturen k
ds durch Monokulturen kämpft.Unter dem Deckmantel angeblich grüner Zertifikate wird Brasiliens größtes Palmölunternehmen, Agropalma, mit Missbräuchen wie der Aneignung von Land und der Vertreibung von Kleinbauern und indigenen Gemeinschaften in Verbindung gebracht. Missstände, die schließlich in Form von Brotaufstrichen und Schokolade in den gut gefüllten Regalen unserer Supermärkte landen – und von dort aus in Millionen europäischer Haushalte.50 international bekannte Persönlichkeiten – darunter Brian Eno, Slavoj Zizek, Elfriede Jelinek, Carola Rackete, Jean Ziegler, Janis Varoufakis, Kim de l´Horizon und Ilja Torjanow – fordern darum in der „Erklärung des 13. Mai“: Schluss damit!Erklärung des 13. Mai: Gegen die „nachhaltige“ Zerstörung des Regenwalds und der dort lebenden Menschen!Der 13. Mai ist ein revolutionärer Tag. Am 13. Mai 1888 wurde in Brasilien die Sklaverei offiziell abgeschafft. Am 13. Mai 1968 wurde von den Pariser Barrikaden der Generalstreik gegen die großen Konzerne ausgerufen. Und am 13. Mai 1989 besetzten Studenten in Peking den Platz des Himmlischen Friedens. Aber die Hoffnungen von 1968 und 1989 auf Verteilungsgerechtigkeit und Demokratie gingen in ein globales System der neoliberalen Ausbeutung über. Noch immer ist der Boden Lateinamerikas in den Händen der ehemaligen Invasoren. Die Zerstörung von Mensch und Natur geht nicht nur unvermindert weiter, sondern wird mit Fake-Zertifikaten und Greenwashing sogar noch beschleunigt. Heute, am 13. Mai 2023 solidarisieren wir uns deshalb mit MST, der größten Landlosenbewegung Lateinamerikas, und fordern: Nein zu Landraub und Ausbeutung! Ja zu Demokratie, gerechter Landverteilung und einer Ökologie der Sorge!Bei der Kolonisierung Lateinamerikas wurde den Ureinwohner:innen nicht nur ihre Freiheit und ihre Kultur, sondern auch ihr Land und millionenfach ihr Leben genommen. Bis heute sind über die Hälfte der landwirtschaftlichen Flächen Lateinamerikas in den Händen von einem einzigen Prozent der Bevölkerung. Auf gewaltigen Monokulturen werden von Großkonzernen, die die Landwirtschaft von der Aussaat bis zum Verkauf kontrollieren, Soja, Palmöl und Rindfleisch hergestellt. In Brasilien entspricht allein die für Mais und Soja genutzte Fläche zweimal der Größe Portugals. Mit der industriellen Monster-Produktion gehen Entwaldung und Vertreibung einher. Wie zur Zeit der Kolonisierung werden die Ureinwohner:innen, Quilomboloa-Gemeinden (die von den Nachkommen versklavter Menschen gegründeten Gemeinschaften) und Kleinbauern ausgebeutet, vertrieben und sogar ermordet.Seit den 80er-Jahren konnte die Landlosenbewegung MST – die größte soziale Bewegung landloser Bäuerinnen und Bauern in Lateinamerika, die sich für eine radikale Landreform und eine ökologische Landwirtschaft einsetzt – Landtitel für über 400‘000 Familien in Brasilien erkämpfen. Die Bewegung wurde deshalb seit ihrer Gründung kriminalisiert und von den mächtigen brasilianischen Agrotrusts bekämpft. Jährlich kommen Dutzende Aktivist:innen ums Leben oder verschwinden. Im brasilianischen Bundesstaat Pará, dem Amazonas-Staat Brasiliens, finden gemäß Statistiken die meisten politischen Morde weltweit statt. In keiner anderen Region des Planeten verschwinden so viele Aktivist:innen und Umweltschützer:innen, ermordet von den Milizen der Besitzer der Monokulturen und den Anhängern des Expräsidenten Bolsonaro.Im Amazonas entscheidet sich die Zukunft unseres PlanetenDiese Aktivist:innen kämpfen für uns alle, denn im Amazonas entscheidet sich die Zukunft unseres Planeten: Für oder gegen die endgültige Abholzung des größten Urwalds der Welt. Für oder gegen eine ökologische und menschliche Landwirtschaft. Für oder gegen die Vertreibung von Menschen für die Herstellung von Soja, Palmöl und Rindfleisch. Für oder gegen eine seit Jahrhunderten ausstehende Revision des kolonialen Landraubs. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Kampagnen haben in den letzten Jahren ein Bewusstsein für die Herkunft unserer Konsumgüter erzeugt. Freiwillige Zertifikate, sogenannte „Nachhaltigkeits-Siegel“, sollen die gewaltfreie und umweltschonende Herstellung von Palmöl, Soja, Rindfleisch und vieler weiterer Produkte sichern.Insbesondere Ferrero (Nutella) gilt dank dieses Zertifizierungs-Systems als Klassenprimus in Sachen „Nachhaltigkeit“, arbeitet mit dem WWF zusammen und engagiert sich selbstbewusst in Sachen Umweltschutz. Das Problem ist nur: Es handelt sich bei diesen Initiativen um neoliberales Greenwashing! Agropalma, der größte Palmölkonzern Brasiliens, aktiv im Amazonas-Staat Pará und Zulieferer von 20 internationalen Lebensmittelherstellern, darunter Ferrero (Nutella), Nestlé, Pepsico, Kellog’s, Mars, Langnese, Unilever und Danone, ist das zynischste Beispiel dafür. Agropalma ist mit insgesamt zehn internationalen Siegeln für biologischen, fairen und nachhaltigen Anbau zertifiziert, unter anderem dem Biolabel der EU (EU Ökoverordnung) und RSPO (Roundtable for Sustainable Palmoil).Das Problem ist nur: Die Siegel wurden von der Agroindustrie für die Agroindustrie geschaffen. Die Monokulturen von Agropalma stammen nicht nur aus kolonialem Raub, sondern zudem aus der unrechtmäßigen Aneignung von staatlichen Landflächen und der Vertreibung indigener Kleinbauern. Zehntausende Hektar Land des Palmöl-Produzenten wurden bereits von brasilianischen Gerichten annulliert, berichten brasilianische Medien. Während die Europäische Kommission gerade ihre neueste Kampagne gegen Greenwashing startet und Nutella fortfährt, sich mit den entwerteten Siegeln zu schmücken, berichten brasilianische Anwält:innen und internationale NGOs über Klagen der Bevölkerung über Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und schlechte Arbeitsbedingungen auf den zertifizierten Plantagen. Über 500 Jahre nach der Invasion Lateinamerikas fahren Wirtschaft und Politik fort zu tun, was sie immer getan haben: ein Maximum an Profit mit einem Minimum an Zugeständnissen an die Gesundheit des Planeten und seiner Bewohner zu vereinen, verdeckt durch eine zynische Rhetorik der „Nachhaltigkeit“.Gemeinsam mit der brasilianischen Landlosenbewegung MST fordern wir deshalb:Sofortige Prüfung der Zertifikate! Wir fordern die brasilianische Regierung und Behörden auf, die Einhaltung der Menschenrechte auf den Plantagen von Agropalma und die rechtliche Situation der Landflächen in Pará zu klären. Zudem muss das System der Zertifizierung insgesamt revidiert werden. Siegel, die von Interesseverbänden erfunden, kontrolliert und vergeben werden – absurder geht es nicht! Wir rufen die EU auf, ihre leere Rhetorik zu beenden und endlich die nötigen politischen und rechtlichen Schritte zur Unterstützung der globalen Zivilgesellschaft einzuleiten.Boykott gegen Ferrero und alle anderen beteiligten Firmen! Ferrero, Nestlé, Danone, Unilever und Co. haben sich in den vergangenen Jahren als Klassenbeste in Sachen ökologischer und gerechter Landwirtschaft inszeniert. In Wahrheit sind sie aber nur Klassenbeste in Sachen Greenwashing. Unsere Pralinen und Schoko-Hasen, unsere Kinderschokolade und der morgendliche Nutella-Aufstrich stehen mit Menschenrechtsverletzungen, Landraub und Umweltzerstörung in Verbindung, sei es in Lateinamerika, Asien oder Afrika. Wir rufen zu einem sofortigen Boykott aller Produkte der Abnehmer von Agropalma und anderer großen Agrotrusts auf.Gemeinsam für eine unabhängige Landwirtschaft! Agropalma und dessen Kunden sind nur zwei besonders unmenschliche Beispiele für ein globales System des Etikettenschwindels: der neoliberalen Fiktion einer „nachhaltigen“ industriellen Produktion! Wir brauchen einen radikalen Wandel: Kaufen wir keine Produkte transnationaler Firmen mehr! Wir brauchen kein Wirtschaftssystem, das den unbedingt nötigen Rodungsstopp nicht durchführt, sondern dessen Aufschub mit Fake-Siegeln, CO2-Deals und privaten Schutzwäldern kapitalisiert! Bestehen wir auf Lebensmitteln aus tatsächlich kooperativem, ethischem und biologischem Anbau!Für einen radikalen Systemwechsel! Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können bestimmen, wie die Geschichte weitergeht: Beenden wir die Verbrechen des Kolonialismus gegen Mensch und Natur! Sagen wir gemeinsam der milliardenschweren Industrie des Greenwashings den Kampf an! Soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz gehören zusammen. Unterstützen wir die Landlosenbewegung MST in ihrem Kampf für eine echte Landreform! Setzen wir uns ein für einen radikalen Systemwechsel – es ist noch nicht zu spät!Schluss mit dem zertifizierten Ausverkauf unseres Planeten! Landreform jetzt! Gegen neoliberales Greenwashing! Für eine Ökonomie der radikalen Sorge! Unterzeichnen wir die „Erklärung des 13. Mai“ für eine ökologische, humane und faire Weltwirtschaft!MST – Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem TerraUnabhängiges Experten Komitee:Rodrigo de Almeida Muniz, MSTWolfgang Kaleck, Menschenrechtsanwalt, BerlinAmintas Lopes da Silva Júnior, MSTChristophe Marchand, Anwalt, BrüsselMilo Rau, Regisseur „Antigone im Amazonas“Klaus Schenk, Aktivist, Rettet den Regenwald e. V.Unterstützt und unterzeichnet von:Alberto Acosta, Politiker, EcuadorGiorgio Agamben, Philosoph, ItalienYann Arthus-Bertrand, photographe, FranceJérôme Baschet, Historiker, FrankreichFranco „Bifo“ Berardi, Philosoph, ItalienYann Arthus-Bertrand, Fotograf, FrankreichSibylle Berg, Autorin, SchweizJulian Boal, Autor, BrasilienNoam Chomsky, Philosoph und Aktivist, USAAlain Damasio, Schriftsteller, FrankreichPhilippe Descola, Anthropologe, FrankreichAnuna De Wever, Klimaaktivistin, BelgienCyril Dion, Autor und Regisseur, FrankreichGeoffroy de Lagasnerie, Politischer Philosoph, ÖsterreichBrian Eno, Künstler, LondonDidier Eribon, Soziologe, FrankreichAnnie Ernaux, Autorin, FrankreichMalcolm Ferdinand, Umweltingenieur, FrankreichAdèle Haenel, Schauspielerin, FrankreichDonna Haraway, Historikerin, USASrecko Horvat, Philosoph, KroatienRahel Jaeggi, Professorin für Praktische Philosophie, DeutschlandElfriede Jelinek, Autorin, ÖsterreichAilton Krenak, Philosoph, BrasilienKim de l’Horizon, Autor, SchweizTom Lanoye, Autor, BelgienÉdouard Louis, Autor, FrankreichLéna Lazare, Aktivistin, FrankreichBilly MacKinnon, Autor und Produzent, SchottlandNastassjia Martin, Anthropologin, FrankreichRobert Menasse, Autor, ÖsterreichRobert Misik, Autor, ÖsterreichBaptiste Morizot, Philosoph, FrankreichChantal Mouffe, Politische Philosophin, BelgienAdolf Muschg, Autor, SchweizOlga Neuwirth, Komponistin, ÖsterreichFatima Ouassak, Politische Philosophin, FrankreichAnja Plaschg (Soap&Skin), Sängerin, ÖsterreichCarola Rackete, Aktivistin, NorwegenMilo Rau, Regisseur, BelgienTiago Rodrigues, Regisseur, FrankreichFabian Scheidler, Philosoph, DeutschlandVandana Shiva, Aktivistin, IndienEce Temelkuran, Journalist, TürkeiTheodoros Terzepulos, Regisseur, GriechenlandIlja Trojanow, Autor, DeutschlandLuc Tuymans, Künstler, BelgienDavid Van Reybrouck, Autor, BelgienYanis Varoufakis, Aktivist, GriechenlandGisèle Vienne, Regisseurin, FrankreichHarald Welzer, Soziologe, DeutschlandCornel West, Philosoph, USAJean Ziegler, Soziologe, SchweizSlavoj Zizek, Philosoph, SlowenienUnterstützt von:Rettet den Regenwald e. V.Attac FranceLes soulèvements de la TerreIIPM – International Institute of Political MurderZAD Notre-Dame des Landes
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