Vom 6. September an steht Jörg Kachelmann vor Gericht. Wie das Verfahren ausgehen wird, ist ungewiss. Gewiss ist aber, dass in den ersten Wochen nach Kachelmanns Festnahme immer wieder belastende Details an die Öffentlichkeit gelangten, entlastende jedoch nicht. Den beiden jugendlichen Angeklagten im Fall Brunner erging es ähnlich: Vor Beginn des Prozesses veröffentlichten die Medien vor allem Belastendes. In beiden Verfahren drängt sich der Eindruck auf, dass die Staatsanwaltschaft sich in der Klemme zwischen den Ansprüchen einer boulevardgetränkten Öffentlichkeit und den Dienstherren in den Justizministerien befindet. Die Justiz steht unter enormem Druck. Die deutsche Sicherheitsgesellschaft erwartet stets harte Urteile, und die Bürger halten nicht viel von ihrer Strafjustiz: „Zu schlaff“ – meinen aktuell 80 Prozent der Deutschen.
Besser als eine harte Strafe, die im Zweifel nie etwas bringt, wäre justizielle Aufklärung durch ein unabhängiges, faires und vor allem öffentliches Verfahren, das den Verurteilten Perspektiven lässt. So etwas setzt wahre Unabhängigkeit voraus. Hinreichende Autonomie hat in unserem Rechtssystem nur das Bundesverfassungsgericht. Und Karlsruhe vermag gesellschaftliche Zusammenhänge auch von Zeit zu Zeit überzeugend zu vermitteln. Es schöpft diese Überzeugungskraft aus seiner umfassenden Unabhängigkeit.
Autonomie ist das Gebot der Stunde
Warum geht das nicht im gesamten Justizsystem? Gerade hier wäre Autonomie das Gebot der Stunde. Der Ruf der Richterverbände belegt das eindrucksvoll. Im Kern geht es um die Verlagerung der Personalhoheit weg von den Landesjustizministern (der Exekutive) hin zu den Richterwahlgremien und unabhängigen Justizverwaltungsräten (der Judikative). Demokratisch legitimierte Richterwahlen gibt es in 24 EU-Ländern. Nur in Deutschland, Österreich und Tschechien werden die justiziellen Kontrolleure noch von der zu kontrollierenden Exekutive bestellt: Das ist ein rechtsstaatliches Ding der Unmöglichkeit.
Dies wäre allerdings nur ein erster Schritt. Darüber hinaus ist eine umfassende Reform im Justizsystem notwendig, wie es Richterverbände fordern. Wahre Unabhängigkeit ist erst möglich, wenn Auswahl und Ersternennung anhand nachvollziehbarer Kriterien geschähen. Beförderungen sollten durch Funktionszuweisungen auf Zeit ersetzt werden. Befähigungsbeurteilungen durch Vorgesetzte (im selben Spruchkörper!) würden damit obsolet. Wenn Bürger wüssten, dass Beisitzer ihre Rechtsprechung vom Wohlwollen des Vorsitzenden abhängig sehen, wäre der Ansehensverlust der Gerichte wohl noch größer. In der Befreiung der Dritten Gewalt von Karriereabhängigkeiten liegt der Hauptgedanke einer umfassenden Autonomie. Das sind insbesondere psychologische Effekte, die der Berufsrolle von Richter und Staatsanwalt den erforderlichen Rahmen böten. Furchtlosigkeit vor den Einflüssen Dritter, insbesondere vor Machteinflüssen, sind erst das Produkt realer Unabhängigkeitsgewähr.
Das gilt für Richter und Staatsanwälte gleichermaßen, auch wenn das Grundgesetz derzeit nur den Richtern die Unabhängigkeit formal sichert. Die Finanzkrise sollte jedem deutlich machen, wie wichtig diese Forderung ist. Die Spekulation Privater ist von allen Regierungskräften im Schulterschluss mit der Finanzwirtschaft entfesselt worden. Die Schäden im Bank- und Finanzsektor sind daher systemisch von der Politik mit verursacht worden. Das alles gehörte in die öffentliche Aufklärung eines Justizsystems, das unerschrocken gegen jedermann – also auch gegen Politiker – ermitteln müsste, wenn hinreichende Anhaltspunkte vorliegen, was eindeutig der Fall ist: Es geht um den Straftatsbestand der Untreue. Warum geschieht das nicht? Die Aufsicht über Finanzspekulationen in Landesbanken üben zahlreiche hohe politische Funktionsträger aus. Sie bestellen und führen durch Weisungen jene, die die Verantwortlichkeiten der politischen Aufsichtsräte in Ermittlungsverfahren strafrechtlich prüfen müssten. Wie kann aber ein Staatsanwalt gegen seinen Dienstherrn unabhängig ermitteln, wenn dieser sein Herr und Gebieter ist?
Weniger Kontrolle und mehr Macht
Der Jäger muss jagen, der Richter wägt ab. Unabhängigkeit für beide heißt nicht Komplizenschaft in der Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs. Unterschiedliche Berufsrollen innerhalb des Justizsystems brauchen auch unterschiedliche Organisationsformen – in jeweiliger Unabhängigkeit. Entlässt man Staatsanwälte und Richter aus der Kontrolle der Exekutive, haben sie auch mehr Macht, das heißt auch mehr Selbstverantwortung. Sie müssten ihre Machtgrenzen – zum Beispiel durch eine Stärkung der Richterdienstgerichtsbarkeit, welche die Richter richten kann – deutlicher machen. Dazu gehört auch, dass dem Bürger ausreichender Rechtsschutz bei unabhängigen Gerichten eingeräumt wird, gerade während des Ermittlungsverfahrens. Daran hapert es heute wie gestern.
Neue Prämissen einer gerechteren Sozialordnung, die den Einsatz einer von der Leine politischer Opportunität abgekoppelten Justiz eigentlich erst wirksam legitimieren, müssen indes andere einlösen. Die Überlebenschance einer sozial gerechten Gesellschaft liegt primär im Gelingen dieser demokratischen Herkulesaufgabe.
Peter-Alexis Albrecht ist Kriminologe, Strafrechtler und Autor von Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft. Auf der Suche nach staatskritischen Absolutheitsregeln (2010)
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