Aufstand in der Wüste

Theorie des Partisanen Lawrence von Arabien neu gelesen

Unter Militärhistorikern geht folgender Scherz um: Die alliierten Truppen im Irak wundern sich, dass sie in sämtlichen Palästen Saddam Husseins die 14. Ausgabe der Encyclopædia Britannica finden, und zwar mit Eselsohren im Band »G«. Keiner weiß warum, bis endlich jemand nachschlägt: Unter »G« wie »Guerrilla« steht alles, was man für einen irregulären Wüstenkrieg wissen muss. Verfasst von T. E. Lawrence und abgedruckt mit der üblichen Verbeugung britischer Hoflieferanten: »by appointment to her Majesty«.

Am Lagerfeuer mit Saddam?

Wenn Hoflieferanten Theorie des Guerillakrieges betreiben, sind weitere Absurditäten nicht fern. Man nehme den oben gemachten Witz: Erstens trifft er zu und zweitens rührt er an eine alte Wunde. Es ist ja nicht das erste Mal, dass britische Truppen in arabischen Wüsten kämpfen. Von 1916-18 waren sie schon einmal mit im Spiel, damals allerdings auf Seiten arabischer Partisanen, die man mittlerweile als »irregulär« verabscheuen würde.

Kinogänger werden ahnen, wovon jetzt die Rede ist. Wem stünde nicht Peter O´Toole vor Augen, wie er als Lawrence of Arabia mit Arabern am Lagerfeuer liegt, den Aufstand gegen die Türken in der Wüste planend? Ein solch perfekter Mix aus Männererotik und Partisanenromantik konnte gar nicht anders als erfolgreich sein. Sieben Oscars hat der Film erhalten, und mehreren Generationen von Männern ist so warm ums Herz geworden dabei, dass Peter O´Toole mancherorts als Florence of Arabia gilt.

So weit, so gut. Wir gönnen jedem seinen Spaß. Nur wird die Sache ungemütlich, wenn Saddam Hussein mit am Lagerfeuer liegt. Ferner sollte man nicht ganz vergessen, dass besagter T. E. Lawrence erstens Filme über sein Leben zu verhindern suchte (»Ich verabscheue den Gedanken, verfilmt zu werden«) und zweitens seinen Spaß an völlig anderen Dingen hatte - beispielsweise an Militärstrategie. Der Mann war ein erfolgreicher Absolvent britischer Militärakademien, darum hat ihn der Krieg wissenschaftlich interessiert. Oder sollten wir sagen: künstlerisch?

Es ist ein altes Romantikerproblem zu glauben, dass man sich zwischen Kunst und Wissenschaft entscheiden müsse. So hat schon Carl von Clausewitz in seinem legendären Buch Vom Kriege (1832) diskutiert, ob seine Tätigkeit als (Kriegs-)Kunst oder als (Kriegs-) Wissenschaft zu gelten habe. Er entschied sich für die Kunst. Sein Nachfahre T. E. Lawrence war in dieser Hinsicht strenger und hemmungsloser zugleich. Einerseits finden sich bemerkenswert lyrische Passagen in seinen militärischen Überlegungen, andererseits betrachtete er seine Arbeit klipp und klar als Wissenschaft: als Science of Guerrilla Warfare. So nannte er den Beitrag, den er 1929 für die 14. Ausgabe der Encyclopædia Britannica schrieb.

Dieser Text von 1929 hat neuerlich an Brisanz gewonnen. Es steht prima lesbar so ziemlich alles darin, wovon alliierte Militärsprecher sich überrascht zeigten. Generalleutnant William Wallace sagte nach der ersten Woche des jüngsten Irak-Krieges: »Der Feind, gegen den wir kämpfen, ist anders als jener Feind, gegen den wir in unseren Planspielen gekämpft haben.« Man weiß nicht recht, ob man lachen oder den Kopf schütteln soll. So naiv können sie nicht sein. All das, worüber sie sich wunderten, hätten sie nachlesen können - beim Hoflieferanten Lawrence.

So weit die erste Lieferung. Die zweite Lieferung geht an die Lawrence-von-Arabien-Fans. Denn auch für die enthält die Wissenschaft vom Wüstenkrieg so manchen Fingerzeig. Die absurde Vorstellung, wie Saddam Hussein darin liest, ist ebenso lächerlich wie erhellend. Schon der bloße Gedanke einer irakischen Lektüre sagt manches aus. Denn Araber waren als Leser gar nicht vorgesehen. Im Gegenteil: Für T. E. Lawrence lag ein wesentlicher Reiz Arabiens gerade in dem schier unendlichen Gefälle zwischen verhassten Oxforder Akademikern einerseits und den guten Wilden aus der Wüste andererseits. Letztere erschienen nicht zuletzt deshalb sympathisch, weil sie nicht lasen. Denen drückte man Maschinengewehre als angeblich simple Flinten in die Hand, auf dass sie bloß nicht anfingen, daran herumzubasteln. Als Leser kriegswissenschaftlicher Traktate waren diese Leute jedenfalls nicht gemeint, auch wenn eben diese Theorien an ihnen erprobt wurden. Doch scheinen sie ihre Lektion dabei gelernt zu haben.

Die Kommunikation der Partisanen

Reguläre Truppen mögen keine irregulären. Auch die heutigen Briten im Irak haben daran keinen Zweifel gelassen. Es ist ein Grundsatz hochgerüsteter Kriegsmaschinerien, dass sie Gegner suchen, die sich an die selben Regeln halten wie sie. Wer dies nicht tut, gilt als regellos. Letzteres ist allerdings ein Trugschluss. Es zeigt sich nämlich, dass auch der Partisanenkrieg militärwissenschaftlich durchrationalisiert wurde, und zwar von den Briten selber. Daran hätten sie sich erinnern können. T. E. Lawrence hat es unmissverständlich ausgesprochen: Irreguläre Truppen mögen reguläre.

Es gibt eine prinzipielle Asymmetrie zwischen regulären und irregulären Truppen - die einen mögen die anderen nicht, wohl aber die anderen die einen. T. E. Lawrence hat dies als Vorteil für den Partisanen ausgelegt, denn sein Krieg sei eine ins Extrem getriebene Kommunikationsforschung (»›study of communication‹, in its extreme degree«). Diese Definition lässt aufhorchen, zumal in Staaten, die sich selbst als Kommunikationsgesellschaft beschreiben und ihre Kriege als Kommunikationskriege führen.

Die Grundfrage ist simpel: Wann setzt man Kommunikationsmittel ein? Immer dann, wenn der Gesprächspartner nicht da ist. Dann greift man zum Telefon, schreibt eine E-Mail usw., um eben dort mit jemandem kommunizieren zu können, wo er nicht ist, nämlich hier. In modernen Gesellschaften muss man mit Formen der Abwesenheit umgehen können. Eben darin liegt für Lawrence der Ansatz des Partisanen: als Abwesender an der Schlacht teilzunehmen. So wie man kommuniziert, wo der Kommunikationspartner nicht ist, so treiben Lawrence´ arabische Guerilleros ihre Kommunikationsforschung in der Weise, dass sie angreifen, wo der Feind nicht ist (»›the study of communication‹, in its extreme degree, of attack where the enemy is not«).

Es ist ein kühner Grundsatz. Denn Kommunikation bedeutet hier mitnichten, dass man technische Kommunikationsmittel einsetzt, sondern dass der Krieg an sich selbst eine Kommunikationsstruktur der Abwesenheit erhält. Lawrence´ Wissenschaft vom Guerillakrieg läuft im Wesentlich darauf hinaus, den regulär organisierten Gegner auf eine Kommunikationsstruktur zu locken, an der seine technisch überlegenen Kommunikationsmittel zerschellen müssen. - Wem an dieser Stelle beklemmende Assoziationen zur Gegenwart kommen, hat vielleicht nicht ganz Unrecht. Doch die Geschichte geht noch weiter.

Aus dieser seiner Kommunikationstheorie hat Lawrence praktische Schlussfolgerungen gezogen. Erstens hat er mit seinen Irregulären nicht die türkischen Stellungen angegriffen, sondern die Verbindungswege zwischen den Stellungen. Dies war 1917 der vielleicht wichtigste Schachzug des Briten, den alle Irregulären bis heute nachmachen. Damit zwingt man den Gegner, lange Nachschubwege zu verteidigen: von Medina bis Damaskus (1917), von Basra bis Bagdad (2003) oder was immer man einsetzen will. Und bei solch verlängerten Flanken reicht eine Hit-and-Run-Taktik, um den Gegner auf lange Zeit in Atem zu halten.

Ist das Problem einmal so gestellt, kann der Militärwissenschaftler anfangen zu rechnen. Nach einer gewissen Arithmetik des Krieges lässt sich das Zahlenverhältnis von Kriegsfläche und Truppenstärke bestimmen. Das türkische Hoheitsgebiet reichte 1916 bis zum Suezkanal und umfasste den gesamten heutigen Irak. Lawrence ging von 140.000 Quadratmeilen aus, zu deren Kontrolle die Türken nach einem gewissen Schlüssel 600.000 Soldaten brauchen würden. Die aber hatten sie nicht, also wusste Lawrence, dass er mit seinen Partisanengruppen durchkommen würde. - Man wird nicht völlig falsch liegen mit der Vermutung, dass auch 2003 in Bagdad ähnliche Überlegungen angestellt wurden.

Nachdem Lawrence seine Rechnung aufgestellt hatte, ist er vor Begeisterung lyrisch geworden und dichtete Kriegs-Kunst: Die arabische Guerilla sei wie der Geist, der wehe wo er will (»The Arabs might be a vapour, blowing where they listed.«) Mehr noch: Sie sind für Lawrence nicht nur wie ein Geist, sondern beklemmenderweise sogar wie ein Gas (»drifting about like a gas«). - An dieser Stelle hofft man intensiv, dass Saddam Husseins Leute die britische »Wissenschaft des Guerilla-Krieges« nicht studiert haben. Die Metaphern des Dichters Lawrence könnten sie auf dumme Gedanken bringen.

Wie aber werden Partisanen zu Geistern? Indem sie Unterscheidungen abschaffen. Das ist das zweite intellektuelle Grundkonzept: Nimm dem Gegner die Möglichkeit, Unterscheidungen zu treffen. Wahrnehmen heißt unterscheiden können, und wer das nicht kann, ist blind selbst mit modernsten Aufklärungsmitteln.

Schock der Aktualität

An dieser Stelle sei die Lektüre abgebrochen. Denn man soll die Analogien auch nicht übertreiben. Der gravierendste Unterschied zwischen 1917 und 2003 ist wohl, dass es heute nicht mehr um gute Wilde aus der Wüste geht, sondern um einen Schwerverbrecher namens Saddam Hussein. Absolut neu sind auch die Selbstmord-Attentäter. Der Gedanke daran ist bei Lawrence ausgeschlossen. Er hat eine abendländische Ethik der Selbsterhaltung und sagt ausdrücklich, dass ein Befreiungskrieger nicht sterben will: Er kämpft ja für die Freiheit, die er nur als Lebender genießen kann. Weitere Unterschiede liegen in der neueren Militärtechnik. Lawrence kannte noch keine Luftüberwachung, auch keine Hubschrauber usw.

Doch so vieles auch verändert sein mag - den Schock der Aktualität des Textes von 1929 wird man nicht so einfach los. Die Grundbestimmungen greifen. Das asymmetrische Verhältnis von regulären und irregulären Truppen hat Lawrence beklemmend konsequent durchdacht. Dabei ist er zu dem Schluss gekommen, dass der entscheidende Faktor in den Sympathien der Bevölkerung liegt. Wer die auf seiner Seite hat, kann zumindest nicht mehr verlieren. Ob er gewinnen kann, ist eine andere Frage. Auch ein endloser Partisanenkrieg ist möglich. Dieses Horrorszenario scheint den heutigen Alliierten erst spät aufgedämmert zu sein.

Die Grenzziehungen der arabischen Staaten, wie wir sie heute kennen, gehen auf die zwanziger Jahre zurück. T. E. Lawrence war gemeinsam mit Winston Churchill an den Planungen beteiligt. Mit Linealen zogen sie Striche über Landkarten. Damals war die Türkei der große Verlierer. Darauf spielte ein türkischer Politiker an, als er kürzlich sagte, es seien noch Rechnungen aus den zwanziger Jahren offen. Bei dieser Bemerkung hätten sämtliche Alarmglocken schrillen müssen, doch scheint sich im Westen kaum noch jemand zu erinnern. Man sieht: Nie war es wichtiger als heute, T. E. Lawrence zu lesen.

T. E. Lawrence: Guerrilla. Science of Guerrilla Warfare. Encyclopædia Britannica, 14. Ausgabe 1929.

T. E. Lawrence: Aufstand in der Wüste. (Revolt in the Desert, dt.). Frankfurt 1959

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