Peter Grohmann, Autor und Kabarettist und Wanderer zwischen Ost und West, ist vor knapp zehn Jahren "nach drüben" gegangen, nach dort, wo ihn viele früher hingewünscht hatten, nach dort auch, wo er herkam. In diesem Beitrag fasst er zusammen, was nicht zusammenzufassen ist, nachdem er Anfang des Jahres von Dresden nach Stuttgart rückwärts siedelte.
Ich war ein guter junger Pionier, vielleicht sogar der beste in der Klasse der Arbeiter und Bauern, auch wenn es nichts wurde mit dem späteren Aufstieg, weil die Eltern das Weite im Westen suchten. Der Vater - Strafe muss sein - war als sozialdemokratischer Truppenbetreuer mit der Wehrmacht in den Osten gezogen, verschüttet im Kohlenberg von Workuta, die Knochen gebrochen, aber davon gekommen mit dem Leben, ande
mmen mit dem Leben, anders als andere. Die DDR, in die er kam - geheilt, denn was ist nicht alles zu heilen - war nicht sein Staat, und so setzte er sich ab, um in Zwiefalten am Rande der Schwäbischen als arbeitsloser Spätheimkehrer wieder Außenseiter zu sein. Auf solche hatte man im Ländle gerade noch gewartet.Die Russen halfen dem Rest der Familie über die grüne Grenze - das ist lange her. Als sie abermals grün war, gegen '89, begann ich, meine sieben Sachen zu packen und siedelte ein paar Jahre später rückwärts nach Dresden, die Stadt der langen, schrecklichen Träume, in der ich 1945 als Achtjähriger die schweren Luftangriffe erlebt hatte. Warum auch soll man alle leerstehenden Häuser dem Kapital überlassen, sagten wir uns und kauften. Bezahlt wird nicht, konnten wir allerdings nicht sagen, aber das eigene und Omas Sparbuch sollten reichen, auch wenn für den größeren Rest die Sparkasse Fisimatenten machte. O.k., ich würde einem Kabarettisten, der auf die Sechzig zugeht, auch kein leichthändiges Darlehen in die Hand drücken.Ich hatte den Ostermarsch im Gepäck und die Notstandskampagnen, die sozialistischen Falken und alte Ostkontakte, Spaß kann überall sein. In den Kartons, transportiert von einem Stuttgarter Umzugsunternehmen in Arbeiterhand, lagerten noch die Gründungspapiere des republikanischen Club Voltaire, des Wangener Theaterhauses nebst seinen Erfolgsprogrammen, und etliche Zentner jener Bücher, die mein alternativer Kleinverlag nicht mehr absetzen konnte: Geschichte von unten, Spurensuche, Antifaschistisches. Auf solche hatte man in Dresden gerade noch gewartet.Der eine Anschluss war schwerer als der andere. Aber abwarten, Genossen. Neben der 220 qm großen Wohnung nämlich hatten wir uns die Remise ergattert, mit polnischer Hilfe auf Vordermann gebracht für Kultur in Klotzsche, Klotzsche am Dresdner Heiderand. Sieben Jahre lang Lesungen und Nachdenken mit Nachbarinnen und Neugierigen und Wende-Involvierten: Ein großes Publikum in Grohmanns Kleinem Haus. Ausstellungen im monatlichen Wechsel, eine Stadtschreiberstelle (mit Annegret Herzberg und Wulf Kirsten, mit Heinz Czechowski und Guntram Vesper und Christoph Geiser) und Kabarett mit dem Eingemachten: Satirische Platzpatronen gegen Biedenkopf und Besserwessis, Stalinisten und Skinheads. Dazu schreiben, auf Tour gehen - "Vom Stasi zum Aldi", Märchen erzählen für Kinder und Geschichten für Große - Bücher auspacken und neue machen. Das Dresdner Stattbuch (5.000 verkaufte), ein umfängliches Adressverzeichnis sächsischer Kleinkunst (Sächsisches Kulturbuch), Literatur der Arbeitsemigranten, die hier gar nicht wohnten, Recherchen zur Geschichte des Faschismus, der Juden und Zwangsarbeiter in Dresden. Auf so was hatte man gerade noch gewartet.Mal ganz unter uns - rund 80.000 Besucherinnen und Besucher kamen in die Wehrmachtsausstellung und ihre etwa 200 Begleitveranstaltungen - endlich mal Oberwasser und Debatten bis in den frühen Morgen. Die von mir ins Leben gerufene AnStiftung Dresden war da ein gutes Vehikel, ein Mantel, unter dem im Laufe der Jahre vier Ost-West-Begegnungen stattfanden: Begegnungen im Seminarstil. Während die West-Gäste meist gegen 10 Uhr kamen, saßen die tapferen (und wenigen Dresdner) schon um neun mit Bleistift und Papier parat, mussten sie doch um 18 Uhr gehen: "Die Mutti hat's Ahmdbrood fertsch."Mir linkem Stuttgarter Einzelgänger froren die Pfoten ab beim Flugi-Verteilen gegen Faschos - aber es waren die eigenen. Die Gutsten waren die Gruppe gewohnt, das Team, das alte Kollektiv, und derlei Individualismus blieb ihnen auch nach sieben Jahren noch fremd. "Wir müssen eben unsere Erfahrungen selbst machen, und das braucht Zeit", argumentierten sie ganz richtig und wollten nicht die Straße blockieren, als Helmut Kohl zur Abholzungsorgie Siemens die höheren Weihen gab. Die 10.000 Bäume, die in der Heide fielen, wären ohnehin gefallen.Es geht immer noch seinen Gang, und der ist behäbiger, zeitloser als weiter westlich. Zeit ist da. Die Quote der Arbeitslosen nicht nur in Dresden ist deutlich höher als der Stimmenanteil der Sozialdemokraten. Deren designierter Kandidat für die Oberbürgermeisterwahlen hat eben entnervt das Handtuch geworfen: Karl Nolle. Der Verbandsvorsitzende der sächsischen und thüringischen Druckindustrie und "gelernte Sozialdemokrat" aus Hannover hat nach der Wende eine heruntergewirtschaftete Druckerei auf Kredit gekauft und zum innovativen Musterbetrieb entwickelt, Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen und mit seinem Lichtdruck-Museum ein Weltkulturerbe gerettet, sich aber auch ansonsten vehement für Kultur und Soziales in der Stadt engagiert. Dresden freilich, so scheint es, kann derlei Einsatz noch kaum wahrnehmen. Zu tief sitzen die tradierten Vorstellungen vom Lauf der Dinge beim gelernten DDR-Bürger, die Nolle auch schon mal unter der Gürtellinie angingen, ihn aber ansonsten links liegen ließen, wenn sie ihn nicht gerade als Sponsor brauchten. Ein alter Berghofer ist den Menschen allemal näher als ein neuer Nolle - was wiegt schon Juso-Geschichte und Charta-Solidarität gegen den Mann aus dem Volke?Der Lauf der Dinge sieht für viele so aus: Gewinner Wessi, Verlierer Ossi. Der Wessi als hartherziger Ellbogenmensch, jenseits aller Solidarität, im richtigen Teil Deutschlands Karriere gemacht oder wenigstens Knete. Der Ossi dagegen in Geiselhaft der Sowjetunion - Zahlmeister fürs ganze Deutschland, kurz gehalten in der Gleichheit mit ihrem marginalen sozialen Gefälle - und zu kurz gekommen nach der Wende - der Hase war schneller da, obwohl man auf den gerade eben nicht gewartet hatte.Kapital wächst zusammen, alles andere bleibt sich mittlerweile eher fremder als gestern. Da ist viel Resignation nicht nur im Elbtal, 400.000 qm Wohn- und Büroflächen zu vermieten, obgleich die Stadt das Glück der Touristen ist: Morgens die Frauenkirche des ZDF, ein Blick auf die Synagoge, wenn die Stadtführer mitmachen, nachmittags Zwinger. Blaues Wunder bei der Heimfahrt - denn geschlafen wird in Tschechien (22,50 Mark mit Frühstück, Rückweg über Prag). Sprechen wir über gestern oder über morgen? Allenfalls über heute mögen manche (na na, sag ich, fast alle), und die Demokratie bringst ja wohl auch nicht. Aber wer bringt's? Oder muss man sich's etwa auch noch selbst holen?Grohmann bringt's nicht. Fünfmal hat die AnStiftung ihren jährlichen Friedenspreis verliehen, fünfmal für Bürgerinitiativen, Zivillcourage, gegen Rassismus. Der Friedenspreis des vorigen Jahres - an der Basis gesammelte 5.000 DM - ging an fünf Sklavenarbeiterinnen von Daimler-Benz, die in Genshagen bei Berlin die besten Jahre ihres Lebens ließen und heute noch für die wenigen überlebenden Frauen in Warschau und Budapest und Jewminka für Lohn und Würde kämpfen. Der alte Staat, die DDR, hatte behauptet, schuldlos zu sein am Los der Zwangsarbeiter und die Taschen zugehalten. Der neue Staat freilich verneigt sich tief vor den Opfern - und hält die Taschen noch mehr zu. Ein feiner Unterschied. Aber wegen sowas geht man nicht auf die Barrikaden, nicht in Dresden, und nicht in Stuttgart. Hab' ich Zweifel säen können in Dresden? Wenn nicht, säe ich in Stuttgart. Ich kenn den Boden besser.
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