Im Bad Cannstatter Römerkastell, einem architektonischen Palimpsest von Kasernen der Antike und der Neuzeit (bis zum Abzug der US-Streitkräfte 1993), entsteht seit 2001 ein modernes Film- und Medienzentrum. Im Oktober 2003 wurde hier das Forum Neues Musiktheater der Staatsoper Stuttgart als "Labor zur Entwicklung neuer Perspektiven des Musiktheaters im 21. Jahrhundert" eingeweiht. In Zeiten, da Theater schließen und Afghanistan zum Experimentierfeld wird, ist das ein großes, dem Engagement von Klaus Zehelein zu verdankendes Ereignis. Die erste Veranstaltung, die Uraufführung von Im Spiegel wohnen des Komponisten Andreas Breitscheid, hat, ausgehend vom Text Heiner Müllers, eine bahnbrechende, ästhetische Konzeption vorgestellt.
Vier, jeweils an den Ecken des Raums postierte Instrumente, Kontrabass (Stefano Scodanibbio), Akkordeon (Teodoro Lanzellotti), Posaune/Tuba (Mike Svoboda) und Saxophon (Sascha Armbruster) "lesen" die Bildbeschreibung von Heiner Müller (1984). Der Komponist und Manuel Poletti, Experte für elektronische Klangumformung, bearbeiten dieses von den Solisten angebotene Klangmaterial elektronisch. Der Computer erkennt bestimmte Rhythmen und Tonhöhen, übersetzt Klänge von einem Instrument ins andere, verändert und verschiebt Töne, worauf ihrerseits die live spielenden Musiker wieder reagieren. Gleichberechtigter Teil dieser Klangwelt sind der von den Darstellern in verschiedenen Sprachen artikulierte Text und die Stimme einer Sängerin (Lani Poulson). Zu dieser musikalischen Anordnung kommt, wie könnte es bei einer Bildbeschreibung anders sein, die optische. Wir sehen nicht nur die Musiker und die Schauspieler, sondern auch eine Tänzerin (Tal Beit-Halachmi) und Video-Projektionen (jetzt sind alle Künste versammelt) auf einer Wand, die wie eine alte Schultafel gedreht werden kann: auf der einen Seite Spiegel, auf der anderen Seite Bild und, in waagrechter Stellung, eine bespiel- beziehungsweise betanzbare Fläche in drei Meter Höhe.
Diese faszinierende Anfangskonstellation (Ergebnis einer nicht alltäglichen Zusammenarbeit) ist eine überzeugende Antwort auf zwei Fragen: Welche Bühne, welchen Raum braucht eine Darstellung des Müllerschen Textes und allgemein, welche Rolle spielt der Text im neuen Musiktheater? Jean Jourdheuil (Regie) und Mark Lammert (Raum- und Filmkonzeption), die schon in der vorigen Spielzeit der Staatsoper Stuttgart eine viel beachtete Mozartoper, La finta giardiniera, inszeniert hatten, haben wörtlich genommen, was Heiner Müller zur Entstehung und Struktur seines Textes gesagt hatte: "Ein Bild beschreiben heißt auch, es mit Schrift übermalen. Die Beschreibung übersetzt es in ein anderes Medium. (...) Die Struktur des Textes ist, ein Bild stellt das andre in Frage. Eine Schicht löscht jeweils die vorige aus, und die Optiken wechseln. Zuletzt wird der Betrachter selbst in Frage gestellt, also auch der Beschreiber des Bildes. Insofern ist es ein Autodrama, ein Stück, das man mit sich selbst aufführt."
Also: Übersetzung in andere Medien; Bildung von Schichten, die simultan und konsekutiv, Geschichten sichtbar/hörbar machen; wechselnde Optik, die schließlich auch den Betrachter in Frage stellt. Ein U-förmiger Zuschauerraum ermöglicht die Vielzahl der Blickwinkel und vereitelt jede zentralperspektivische Haltung. Die Regie moderiert die Koexistenz und Überlappung der Medien, eröffnet Möglichkeiten fragmentarischen Verstehens, indem sie Überfülle und Verdoppelungen abbaut und immer wieder eine Leere herstellt, in der etwas stattfinden kann, in der das Warten zur entscheidenden Haltung wird, um die "Macht der Abwesenheit", zentrale Kategorie der Müllerschen Theaterästhetik, zu evozieren. Es geht nicht um den Sinngehalt eines Textes, den der "autodramatische" Zuschauer/Zuhörer in dieser Aufführung nie vollständig zu hören bekommt.
Denn Bildbeschreibung zielt nicht auf analytisches Verstehen, sondern auf das Erlebnis einer Landschaft mit Figuren, zu denen der Betrachter gehört und auch nicht gehört. Ein Text ohne Fabel. "Nichts ist passiert, aber eine Katastrophe hat stattgefunden. Oder: Eine Katastrophe hat stattgefunden und nichts ist passiert", sagt Jean Jourdheuil. Ein Rätsel, eine Detektivarbeit, eine Mordgeschichte. Und nun tasten die Augen der Zuschauer die Szene ab, wie Videokameras, die alles aufnehmen, ohne dass dies Alles eindeutig zu entschlüsseln wäre. "Es kommt nie ein Bild zustande, das du wirklich mit nach Hause nehmen kannst." Müller-Jourdheuil-Lammert versprechen sich vom Widerstand gegen "die erkennungsdienstliche Behandlung von Kunst" (Müller) eine Langzeitwirkung. Sie frustrieren das kurzzeitige Aha-Erlebnis des Erkennens, das Erfolgserlebnis der Übereinstimmung von Akteuren und Zuschauern. Nicht das Bild, sondern das Sich-kein-Bild-machen-können/dürfen erzeugt Wirkung.
In den Manuskripten Müllers zu Bildbeschreibung, die in den Stuttgarter Text eingebaut wurden, heißt es: "Wenn das Bild kein Spiegel ist, gibt es (noch) Hoffnung. Die Hoffnung wäre das andere." Gesucht ist der Ausweg aus der durch Widerspiegeln erzeugten Klaustrophobie, "wenn das Bild unausweichlich Selbstbildnis wird, die Welt ein ICH". Ist das die Katastrophe, der wir beiwohnen? "Gesucht: die Lücke im Ablauf, das Andere in der Wiederkehr des Gleichen, das Stottern im sprachlosen Text, das Loch in der Ewigkeit, der vielleicht erlösende Fehler", heißt es in Bildbeschreibung.
Die Aufführung beginnt mit einer Reduktion des Textes auf akustisches Material, gewonnen aus der kosmopolitischen, babylonischen Vielsprachigkeit der Darsteller (portugiesisch, französisch, hebräisch, italienisch, deutsch). "In den Zeiten der Globalisierung und der Bildung Europas sprengt das neue Musiktheater den nationalen Raum", sagt Jean Jourdheuil. "Selbst wenn der Text im Wesentlichen deutsch gesprochen wird, wird er von Leuten gesprochen, die Deutsch nicht als Muttersprache haben. Eine Art Spiegelung der Sprache in einer anderen Zunge. Das unterstreicht die musikalische Qualität von Sprache. Mich interessiert die Entfaltung von Vielstimmigkeit und Vielsprachigkeit und nicht deren obszöne, gefährliche Reduktion auf Multikulturalismus." Und dann beginnt die Befragung des (deutschen) Textes durch zwei großartige Schauspieler: Jorge Silva Melo und Marc Barbé. Zwei Körper, zwei Arten des Sprechens und der Bewegung, zwei Generationen, die einander beobachten, verdächtigen, verfolgen, die sich gegen die Übermalung durch Musik (Instrumente, Computer, Gesang), Tanz und Bildprojektionen wehren, sich in ihnen spiegeln, die nicht unterzukriegen sind. Alles scheint festgemacht zu sein an der Figur von Jorge Silva Melo, die ausstrahlt, was wir wissen wollen und nicht verstehen. Seine Aura ist der Schwarzfilm, von dem Müller sagte, er unterbreche den pausenlosen Bilderfluss der Medien, damit man Bilder überhaupt wieder sehen kann.
Bildbeschreibung, das ist die These von Jourdheuil und Lammert, ist ein Text gegen die "Auslöschung der Welt durch die Abbildung der Welt", ein Text, der die Notwendigkeit des Bilderverbots, die Macht der Abwesenheit bekräftigt. Den visuellen Kern dieser These, ihre szenische Lösung, erläutert Jean Jourdheuil: "Es war die produktive Intuition von Mark Lammert, dass es Müllers literarische Ambition gewesen sein könnte, Guernica zu beschreiben. Das Bild schlechthin des 20. Jahrhunderts. Wir haben der Projektionswand, die unseren U-förmigen Raum abschließt (oder öffnet), die Maße des Gemäldes von Picasso gegeben. Mit Hilfe von Philip Bußmann erstellten wir dann ein Video, das Picassos Bild in Fragmente zerlegt, die sich zu immer neuen Kompositionen fügen. Barbarischer Sturm, der eine Welt zerschmiß, musischer Sturm, der solche Scherben zusammenfegte hatte Brecht zu Guernica geschrieben. Wir zeigen das Bild nie ganz und kaum ein Zuschauer hat es erkannt. Aber als ich diese schwarz-weißen Fragmente sah, eine Komposition nach der anderen, hatte ich das Gefühl, an der Erfindung der Farbe teilzunehmen". Am Schluss der Vorstellung öffnet sich das große, hintere Tor der Halle, die Geräusche der Außenwelt dringen herein und vielleicht auch der Sturm, von dem im Text so viel die Rede ist ("im Wirbel des Sturms, der die Frau sucht"). Die Darsteller sprechen noch einmal den Beginn des Textes: "Eine Landschaft zwischen Steppe und Savanne, der Himmel preußisch-blau, zwei riesige Wolken schwimmen darin wie von Drahtskeletten zusammen gehalten." Die einzige Erwähnung einer Farbe.
Forum Neues Musiktheater, Stuttgart, Uraufführung von Andreas Breitscheid, Im Spiegel wohnen, Musiktheater nach Bildbeschreibung von Heiner Müller, Regie Jean Jourdheuil, Raum Mark Lammert, Uraufführung am 10. 10. 2003, weitere Aufführungen: 11., 12., 13., 14. Dezember 2003
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