Das Schicksal von Rossinis Tancredi und Die Reise nach Reims, die im Mittelpunkt des XX. Rossini-Opera-Festival in Pesaro stehen, ist stellvertretend für die Rezeption Rossinis in Europa. Der Tancredi wird 1813 in Venedig uraufgeführt und »in vier Jahren macht diese Musik die Runde durch ganz Europa«, schreibt Stendhal voller Bewunderung für den eben erst 21jährigen Autor. Hundert Jahre später war Tancredi praktisch aus den Programmen der Opernhäuser verschwunden und erst vor 20 Jahren hat eine Tancredi-Renaissance begonnen, zu deren absoluten Höhepunkten die diesjährige Aufführung in Pesaro zählt. Gespielt wird die Version des tragischen Finale, die Rossini für eine Aufführung in Ferrara geschrieben hatte, die zu seinen
ung in Ferrara geschrieben hatte, die zu seinen Lebzeiten aber nie mehr aufgeführt wurde und schließlich als verloren galt. Vor kurzem wurde sie wiedergefunden. Dem neu erwachten ästhetischen Interesse an Rossini folgt die philologische Wiederentdeckung. Auf diesen beiden Ebenen bewegt sich das verdienstvolle Festival in Pesaro, das zum Tancredi erstmals eine »kritische Ausgabe« vorlegt. Das mag unmöglich klingen, denn im Musikbetrieb vor Verdi und Wagner gab es das »endgültige Werk« nur als Ausnahme. Fast für jede Aufführung fügten die Autoren auf Wunsch der jeweiligen Stars oder nach den Bedürfnissen der Zeit und des Publikums etwas Neues hinzu, man kürzte ungeniert oder montierte auch verschiedene Stücke zusammen. So war jede Aufführung einzigartig und in diesem Geist kann eine »kritische Ausgabe« auch nur bedeuten, daß das Material in seiner Fülle zugänglich gemacht wird und zu neuen Entscheidungen einlädt.Ebenso symptomatisch ist das Schicksal der Oper Die Reise nach Reims aus dem Jahre 1825. Rossini kommt, nach der venezianischen und neapolitanischen Periode, nach Frankreich, wo er, mit Unterbrechungen, bis zu seinem Tode (1868) bleibt. Der überaus erfolgreiche Maestro schreibt als Einstand, als Verbeugung vor dem Monarchen, ein Stück zu dessen Krönung in der Kathedrale von Reims. In einem Hotel trifft sich die Blüte der europäischen Gesellschaft, um dem Ereignis beizuwohnen, doch eine Fülle komischer Hindernisse vereitelt die Teilnahme und so beschließen die Gäste, in Paris das Ereignis nachzufeiern. Offensichtlich verstand man es im damaligen Frankreich über sich selbst zu lachen. Denn der Krönungsrummel wird samt dem aus Frankreich, England, Deutschland, Österreich und Spanien angereisten Adel ebenso unerbittlich wie geistreich durch den Kakao gezogen. Rossini bringt politisch und ästhetisch das Wunder fertig, Kritik zu einem nicht verletzenden, sondern hinreißenden Vergnügen zu machen. Man mag sich fragen, wie viel Zynismus diese Ironie erforderte und ob die Wiederentdeckung Rossinis nicht gerade dieser besonderen, sehr modernen Mischung zu verdanken sei. Die musikalische Antwort auf diese Frage liegt letztlich in der offenen Struktur der Rossinischen Musik, bei der die gleichen Töne nie das gleiche bedeuten, sondern je nach Interpretation und Kontext, aber vor allem je nach Ornament und Verzierung alles und auch das Gegenteil bedeuten können. Darin besteht vielleicht der »französische Geist«, der diesem Werk bereits bei seiner Uraufführung nachgesagt wurde, ein Geist der nichts, aber auch gar nichts mit der »deutschen Dialektik« zu tun hat, die dann das Jahrhundert der Ideologien bestimmen wird.Die Probe aufs Exempel liefert Rossini selbst. Drei Jahre später benutzt er über weite Strecken die gleiche Musik für seine Oper Le comte Ory und schafft doch ein völlig neues Werk. Aber wenn man Rossini einfach nur als ein Genie der Wiederaufbereitung betrachtet, wie es dann die Wagnerianer taten, kommt man dem Geheimnis nicht auf die Spur. Das Geheimnis liegt im Gesang, der Ton und Wort erst entzündet. Stendhal meinte, die Deutschen hätten Schwierigkeiten mit Rossini, weil in Deutschland die höheren Töchter Klavier lernen, statt Gesang. Wer heute wissen will, was es heißt, Rossini singen zu lernen, setze sich ein paar Stunden in die Accademia Rossiniana um zuzuhören, wie Alberto Zedda, einer der größten Kenner und Dirigenten Rossinis, mit jungen Leuten Verzierungen, Varianten, Intensität, Tempi, Ausdruck usw. probt. Die Accademia, beziehungsweise diese Art von Nachwuchsförderung, gehört zu den großen Verdiensten des Festivals. Sie erarbeitet Techniken und Haltungen, die die Aufführung von Rossini-Opern in großem Stil erst wieder ermöglichen. Denn zu den Besonderheiten dieser Opern gehört, daß es eigentlich keine Nebenrollen gibt. Auch eine kleine Partie stellt den Darsteller vor enorme technische Aufgaben, die im Geiste des Autors mit der größten Leichtigkeit bewältigt werden müssen. Auch hierfür ist Die Reise nach Reims mit seinem großen Cast ein Musterbeispiel. Die Wiederentdeckung dieser Oper verdanken wir ihrer ersten modernen Aufführung 1984 in Pesaro durch Claudio Abbado in der Inszenierung von Luca Ronconi, bei der zum ersten Mal sichtbar wurde, daß dieses Stück überhaupt spielbar und mehr ist als eine Kette von Bravourleistungen. In diesem Jahr geht in erstklassiger und doch völlig veränderter Besetzung die dritte Version dieser Aufführung über die Bühne, nicht mehr im kleinen Raum, sondern in einem riesigen Sportpalast, wie es sich für ein ironisch dargestelltes Gipfeltreffen der europäischen Gesellschaft ziemt.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.