Das farbige Titelbild des dem Jahr 2000 gewidmeten italienischen Theaterjahrbuches Patalogo zeigt eine Szene aus der Steinschen Faust-Inszenierung, ein kleiner Akt der Ver- und Bewunderung, den die normale deutsche Theaterkritik bekanntlich nicht aufgebracht hat. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Jahrbuchs, die italienische Theaterwelt immer wieder in ihrem Zusammenhang mit internationalen Bezugspunkten zu zeigen und das sind in diesem Jahr, neben Stein, die chinesisch-amerikanische Opernproduktion Mudan Ting, die Inszenierungen des Stücks von Lars Noren Personenkreis 3.1 an der Schaubühne Berlin (Thomas Ostermeier) und am Théatre National in Straßburg (Jean Louis Martinelli), das Dostojewskij-Projekt von Lew Dodin in Sankt Petersburg und schließlic
Petersburg und schließlich der Makbetas von Eimuntas Nekrosius. Diese litauische Shakespeare-Inszenierung erhielt den "Ubu-Preis" für das beste, in Italien gezeigte ausländische Theaterstück.Alfred Jarry und sein Père Ubu, Vorläufer von Artaud und Genet, sind die Schirmherrn des renommierten Ubu-Theaterverlags in Mailand, der den Patalogo herausbringt und die Ubu-Preise für Theater organisiert (die Mutation von "Katalog" zu "Patalog" ist eine Hommage an Jarrys "Pataphysique", die Wissenschaft vom Nichts und den imaginären Lösungen). Etwa fünfzig Kritiker entscheiden in einem Referendum über die Preise. Die Idee entstand vor 23 Jahren "aus grenzenloser Neugier gegenüber allen Unterhaltungsformen, aus Widerspruchsgeist, Spieltrieb und Liebe zu aussichtslosen Einsätzen" (so der Kritiker und Verleger Franco Quadri).Was als lockere Avantgarde freier Theatergruppen begonnen hatte, erobert inzwischen die Teatri Stabili. Man weiß, in Italien ist die Kluft zwischen den etwa fünfzehn gut subventionierten Bühnen und einer Unzahl freier Bühnen (der Patalogo verzeichnet über 400 mit etwa 700 Produktionen) besonders tief, was Organisation, Publikum, Repertoire und Ästhetik betrifft. Es ist Zeichen einer Wende, dass die Ubu-Preisverleihung im letzten November im Piccolo Teatro in Mailand stattfinden konnte, im mythischen Raum des Strehlerschen Regietheaters. Der neue Hausherr, Luca Ronconi, selbst ein Ubu-Veteran, bemüht sich, die Tradition des großen Regietheaters mit neuen Konzepten und Fragestellungen zu verbinden, etwa mit dem Problem des Verhältnisses von traditioneller Dramaturgie und wissenschaftlicher Sprache. Am Piccolo gab es im vergangenen Jahr nicht nur Ronconis Traumprojekt (Strindbergs Ein Traumspiel im Dialog mit Das Leben ein Traum von Calderon Della Barca; "Ubu-Preis" für Regie), sondern auch eine ganze Reihe von flankierenden Veranstaltungen zum Thema "Traum" oder zum Thema Migration-Identität-Folklore. Aber was in Mailand gelang, ist in Rom gescheitert. Nach nicht ganz zwei Jahren hat Mario Martone, bei seinem Antritt gefeiert als der jüngste Intendant eines Teatro Stabile, im Herbst 2000 wegen des sich nie offen artikulierenden Widerstands im politisch besetzten Verwaltungsrat seinen Rücktritt erklärt. Anstößig waren die Bemühungen um eine Neugestaltung des Spielplans (Einbezug der nomadisierenden, freien Theatergruppen; Auflockerung der Sesshaftigkeit der Teatri Stabili), um eine Renovierung des Publikums (weg vom Abonnentengips) und um die Gewinnung eines neuen Theaterraums im ehemaligen Industrieviertel von Rom, das als bewohnte Stadtlandschaft von der Theaterarbeit wahrgenommen und einbezogen werden sollte. Martone erhielt den "Sonderpreis Ubu" für seine Verdienste um die "Leitung eines Theaters als kreativer Prozess".Der Preis für die beste Aufführung des Jahres ging an Genesis der Societas Raffaello Sanzio. Diese Kultgruppe aus Cesena geistert seit Jahren durch die europäischen Festivals, hat aber erst durch Ronconi und Martone Zugang zum Tempel der italienischen Teatri Stabili bekommen und mit Genesis in Rom das "Heilige Jahr" eröffnet.Im Grunde hat das Heilige Jahr dem italienischen Theater qualitativ nichts gebracht. Der Patalogo widmet den entsprechenden Veranstaltungen eine ausführliche Schilderung und dem zum Heiligen Jahr 1600 verbrannten Giordano Bruno eine Gedenkseite, ein leeres Blatt, um anzuzeigen, dass kein einziges Theater ein Stück des Häretikers inszeniert hat (Ronconi holt das 2001 am Piccolo in Mailand nach). Zwar wurden Heiligenleben, Pilgergeschichten und Erinnerungen an Laudes, Mysterien und das ganze christliche Volkstheater massenhaft und in ordentlichen Aufführungen auf die Bühne gebracht, aber ohne wirkliche Neugier auf die religiösen Wurzeln des modernen Theaters und wahrscheinlich nur aus dem Grunde, weil eben Geld da war. Zum Leben des Heiligen Franz von Assisi gab es ein neues Stück von Dario Fo und ein altes von Saramago. Aber es bringt nicht viel, Franziskus als Sozialrebellen, als Kritiker der Kirche, als Pazifist oder als Grünen der ersten Stunde darzustellen. Das ärgert zwar den Vatikan, bleibt sonst jedoch ebenso beliebig wie das Musical Francesco, für dessen Aufführung ein amerikanischer Sponsor in Assisi eine alte Fabrikhalle für 12 Millionen Dollar zum Theater umbauen ließ. Der Textautor, Vincenzo Cerami, sieht sein Werk als Gegengewicht zum "Übermaß an Materialismus, Markt, Konsum und leeren Mythen". Die Erfolgsautorin Susanna Tamaro hat auf der gleichen Linie ebenfalls ein Musical zu diesem unerschöpflichen Heiligen angekündigt. Doch die besten Auftritte hatte der Papst selbst. Ohne Furcht vor Materialismus, Markt, Konsum und leeren Mythen füllte er Tag für Tag ein Jahr lang das Fernsehen der italienischen Wohnungen. Kein Premio Ubu.Die Societas Raffaello Sanzio, das Teatro delle Albe, das Teatro Valdoca, Fanny Alexander, Motus und andere bilden seit Jahren so etwas wie den Kern der Ubu-Veranstaltung. Gemeinsam haben sie, dass Texte, Bearbeitung und Regie eines Stückes innerhalb der Gruppen entstehen, die auf Grund persönlicher oder familiärer Beziehungen einen stark kommunitären Charakter haben. Existenzweise und Arbeitsweise fallen weitgehend zusammen. Herkunft, örtliche Bindungen, soziale Beziehungen, Kinder und Alltag gehen in die Produktion ein. Fast alle Gruppen pflegen ein reiches soziales Umfeld, arbeiten mit Jugendlichen und Schulen, verbinden lokale "Mythen" mit der großen Mythologie, experimentieren sprachliche Vielfalt durch Einbezug der Dialekte, der Sprache der Immigranten oder durch historische Rückgriffe. Und in fast allen Produktionen spielen Musik und das Anknüpfen an die Bilderwelt elektronischer Technologien eine wichtige Rolle. Es gibt eine partielle soziologische Erklärung für die Tatsache, dass diese Gruppen an der adriatischen Küste zwischen Rimini, Cesena und Ravenna zu Hause sind. Es ist der Teil Italiens, in dem eine kapitalintensive Vergnügungsindustrie neue Symbiosen von historischer Tradition und virtuellen Welten schaffen will. Das lädt dazu ein, der Forderung Brechts zu folgen, am schlechten Neuen und nicht am guten Alten anzuknüpfen, also an Materialismus, Markt und leeren Mythen."Patalogo 23. Il Duemila e il suo doppio. Il Giubileo in scena. Una stagione all` inferno", Hrsg. von Franco Quadri, Mailand 2000, 345 S. mit zahlreichen Fotos, Lit. 90.000
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