SCHAUPLATZ PALERMO Das "Teatro Massimo" als eingelöstes Versprechen der Kulturpolitik oder wie der Genius loci Stätte zurückerobert, die zu Unorten verkommen waren
Es ist ein Ereignis, wenn die italienischen Opernhäuser im Januar ihre Saison eröffnen. In Palermo hat die Spielzeit trotz Verdi-Jahr mit Alban Bergs Lulu begonnen. Gespielt wird die fragmentarische Fassung von 1935. Man fragt sofort, wie Lulu, dieses Konstrukt aus Männerphantasien, das mörderisch auf seine Schöpfer zurückschlägt, dieses ebenso seelenlose wie hinreißende "wahre Tier, das wilde, schöne Tier", inmitten sizilianischer Leidenschaften wirken wird, in einer Männerwelt, in der es die "Fachmenschen ohne Geist und Genussmenschen ohne Herz" eigentlich nicht gibt. Die Regie von Mario Martone geht dieser Frage aus dem Weg und Francesco Giambrone, der Intendant des Teatro Massimo, begründet die Wahl dieser Oper vor allem als Entsch
m als Entscheidung für die Wiederaufnahme einer fast verschütteten Tradition. Denn in den fünfziger und sechziger Jahren war Palermo, in enger Verbindung mit Darmstadt, eines der Zentren des modernen Musiklebens. Dann kamen die schrecklichen Jahre des kulturellen Niedergangs, als die Stadt in den Händen der Mafia regelrecht ausgeplündert wurde. Im Jahre 1974 wurde das Teatro Massimo wegen Renovierung geschlossen und blieb es 24 Jahre lang. Der Musikbetrieb wurde provisorisch im Politeama weitergeführt. Doch es fehlte die Aura des Hauses. Die Wiedereröffnung 1998 ist das Zeichen einer kulturellen Wende geworden. "Aura" und "Zeichen". Der Taxifahrer, der mich zu den "Cantieri culturali" der Zisa fährt, kann mit diesen Begriffen etwas anfangen. Er war nur einmal, als Kind, im Teatro Massimo und schildert den überwältigenden Eindruck. Es ist wahr: Arbeitslosigkeit, Verkehr und die Wasserversorgung sind die großen Probleme der Stadt, mit denen auch der Bürgermeister Leoluca Orlando nicht fertig geworden ist. Und doch hat niemand nach dem Krieg so viel für die Stadt getan wie Orlando. Auch wer nicht in die Oper geht, freut sich, dass statt einer faulenden Ruine im Herzen der Stadt ein lebendiges Theater steht. Vox Taxi: "Wissen Sie, was Orlando getan hat? Er hat uns gezeigt, dass Palermo schön ist."Ästhetik als Widerstandspotential gegen die Mafia und allgemein gegen die Verwahrlosung des südlichen Lebens? Es ist, als entdeckten die Palermitaner erst jetzt, was sie mit der Zerstörung der Conca d'Oro, der legendären, von den Arabern bewässerten Orangenhaine, mit dem Zerfall der Altstadt und mit der Unwirtlichkeit der neuen Peripherie verloren haben: das gemeinsame Erlebnis schöner Architektur als öffentliche Äußerung der Selbstachtung. Und nun holen sie aus ihren privaten Archiven die Fotos, die den zurückgelegten Weg abstecken. Die Nachkommen der Fotografenfamilie Incorpora stellen derzeit einen umfangreichen fotografischen Nachlass aus den Jahren 1860-1940 vor; in den Cantieri der Zisa sind die Fotos von Nicola Scafidi zu sehen, nach dem Krieg Reporter der großen palermitanischen Tageszeitungen, bis die kritischen Blätter in den achtziger Jahren zumachen mussten. Beide Ausstellungen bestätigen, was sich an der Geschichte des Teatro Massimo ablesen lässt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlebte Palermo eine Blütezeit. Das Teatro Massimo wurde 1875-1897 am Rande der damaligen Altstadt gebaut, mit 1.400 Plätzen eines der großen Opernhäuser Europas. Auf dem Platz erinnern zwei Kioske im reinsten Jugendstil daran, dass längs der modernen Ausfallstraßen Villen entstanden, die in Wien hätten stehen können. Die Fotos von Scalfidi zeigen nicht nur das Gären des Separatismus, der Landbesetzungen, der Mafia und der einsetzenden Modernisierung nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch, dass Palermo noch in den sechziger Jahren an den kulturellen Kreislauf der großen Metropolen angeschlossen war, und das nicht nur, weil die großen Ozeandampfer aus Übersee im Hafen lagen. Louis Armstrong, Paul Newman, Richard Burton, Edward Kennedy, Irene Papas kamen; Rossellini, Francesco Rosi, De Sica und Visconti drehten in und um Palermo ihre Filme; die italienische Literatur schrieb in Sizilien ihre Meisterwerke.Das kleine Teatro Garibaldi erzählt die gleiche Geschichte wie das Teatro Massimo. Es wurde 1862 für Komödien und Volksstücke gebaut und von Garibaldi persönlich eingeweiht. Hundert Jahre später wurde es ein Kino und am Ende der sechziger Jahre geschlossen. Das Dach stürzte ein, die gesamte Inneneinrichtung verschwand und erst 1995 wurde die Ruine baulich abgesichert und wieder als Theater bespielt. Die eingestürzte Rückwand des Gebäudes klafft weiterhin als ein riesiges, geradezu metaphysisches Loch, das den Himmel, das Wetter, die Geräusche der Stadt und die Schatten der umliegenden Häuser ins Theater holt. Carlo Cecchi, einer der bedeutendsten Regisseure Italiens, hat in diesem einzigartigen, nur im Sommer benutzbaren Raum, Shakespeare, Beckett, Edoardo De Filippo und Tschechow in Szene gesetzt. Die größte Genugtuung findet der Intendant Matteo Bavero in der Tatsache, dass die Leute des Viertels das Theater ebenso akzeptieren wie die internationale Fachwelt. Ein Stadtrat hatte beim Anblick der "Ruine" in dieser armen Gegend hochnäsig gesagt: "So kommen wir nie nach Europa." Und was ist passiert? Seit der Spielzeit 2000 ist das Teatro Garibaldi Mitglied in dem von Giorgio Strehler gegründeten hochkarätigen Club der "Union europäischer Theater".Orlando ist als Bürgermeister zurückgetreten und kandidiert bei den nächsten Wahlen für die Präsidentschaft der Region. Seine große Leistung bestand nicht einfach darin, Kulturinvestitionen als Hebel der Entwicklung eingesetzt zu haben. Das hätte die Mafia auch gekonnt. Orlando hat sein ganzes Charisma eingesetzt, um einer ortlos gewordenen Tradition beziehungsweise um einigen, zu Unorten verkommenen Stätten, ihren Genius wiederzugeben. Am Zustand dieser Stätten kann in Zukunft jeder Besucher symptomatisch die Energie erkennen, mit der die Stadterneuerung betrieben wird. Im wesentlichen handelt es sich um die "cantieri" der Zisa (aufgelassene Fabriken, die zum vielseitigen Kulturzentrum wurden), um die Kirche S. Maria dello Spasimo (bis 1986 ein zerfallendes Armen- und Krankenhaus mit alter Kirchenruine, heute ein großartiger Raum für Ausstellungen und Konzerte), um das Teatro Garibaldi und das Teatro Massimo. Eine ähnliche Entwicklung gab es übrigens auch in den anderen ehemaligen Hauptstädten des Südens, in Rom und Neapel (und teilweise in Catania). Es ist kein Zufall, dass die Bürgermeister dieser Städte, Rutelli, Bassolino, Bianco und Orlando Spitzenpolitiker von nationaler Bedeutung geworden sind.Aber Orlando hat vor allem ein Versprechen eingelöst. Skeptiker sahen die Wiedereröffnung des Teatro Massimo zunächst als bloße Imagepflege eines ehrgeizigen Bürgermeisters und sagten eine erneute Schließung voraus. In der Tat war der Neuanfang des Hauses schwierig. Als Kapellmeister wurde der junge Stefan Anton Reck berufen, der sich sechs Monate im Jahr intensiv der Arbeit mit dem Orchester widmet. Ein von der EU gefördertes Werkstättenprojekt erlaubte, in der Schneiderei, Schreinerei und Bühnentechnik mit 50 jungen Leuten an alten Fertigkeiten anzuknüpfen. Aber die schwierigste Aufgabe bestand darin, ein neues Publikum zu gewinnen. Der Chef für Öffentlichkeitsarbeit, Mario Pintagro, erklärt die Strategie: "Wir pflegen unsere alten Abonnenten, meist Leute über 50, die mit der gleichen Begeisterung in die klassische Oper gehen, wie andere ins Stadion. Jugendliche bezahlen mit einem Jugendpass auch nicht mehr als fürs Kino. Um ihre Schwellenangst zu überwinden, veranstalten wir auch Rockkonzerte, zum Beispiel ein Konzert mit Lou Reed. Aber wir schenken unserem Publikum nichts, wir bestehen auf Schönberg, Poulanc, Kurt Weill und anderen Klassikern des 20. Jahrhunderts." Eine anspruchsvolle Musikzeitschrift, Avidi Lumi, macht in drei Sprachen (italienisch, englisch und arabisch) deutlich, dass Palermo keine italienische Peripherie, sondern eine der Hauptstädte des Mittelmeers ist.Seit das Theater wieder lebt, hat die ganze Umgebung ihre Ausstrahlung verändert. Dem Theater gegenüber soll ein schäbiges Stundenhotel gewesen sein, genau die Kulisse für Lulus Begegnung mit Jack the Ripper. Heute ist es eines der charmantesten Hotels der Stadt. Für die streng symmetrische Geschichte vom Aufstieg und Abstieg einer Kokotte finden sich in Palermo ebenso Schauplätze wie für die tragische Verschränkung von Liebe und Tod. Auch die Animalität des Lebens leuchtet in allen Schattierungen, vor allem in der "Vucciria", im "Bauch von Palermo". Und die Projektion der Frau als "schönes Tier" verdankt sich vor allem dem Blick auf die unteren Schichten. Im Roman Der Leopard heißt es von der Frau des Don Calogero: "Donna Bastiana ist so etwas wie ein Tier: sie kann nicht lesen, sie kann nicht schreiben, sie kennt nicht die Uhr, kaum dass sie sprechen kann: eine richtig schöne Stute, wollüstig und noch ganz roh; sie ist nicht einmal imstande, die Tochter zu lieben - gut fürs Bett, das ist alles." Aber ihre Tochter Angelica wird Fürstin von Falconeri, schön wie die Mutter, doch von vollendeter Bildung. Ihr Befreier ist Tancredi, der junge Fürst. Eine Erfolgsgeschichte ohne Mord und Selbstzerstörung. Lulus Befreier hingegen ist Jack the Ripper. "Mörder, Hoffnung der Frauen", hieß ein einschlägiges Stück des jungen Kokoschka. Erst in der bürgerlichen Gesellschaft erfährt das Animalische jene brutale Repression, der die Verklärung der Frau als Raubtier entspricht. Von dieser Differenz und Spannung war in der Aufführung wenig zu spüren, doch die großartige musikalische Leistung verbürgte den Erfolg (Anat Efraty als Lulu, Doris Soffel als von Geschwitz). Lulu mit den Augen Palermos, Palermo mit den Augen Lulus sehen: es bleibt die spannende Frage nach Sexualität und Sinnlichkeit, die Alban Berg schon 1907 in einem Brief als "Angelpunkt allen Seins und Denkens" genannt hatte.
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