Theater muss unbedingt Vergnügen bereiten, aber jede Epoche hat ihre eigene Art, sich zu vergnügen. Rossini (1792-1868), lange als Potpourri-Musiker missbraucht, bestätigt diese Einsicht Brechts. In seiner produktivsten Zeit, als das junge Genie oft mehrere Opern in einem Jahr schrieb, lehrte Rossini der Gesellschaft seiner Zeit das Lachen über sich selbst. Sein Publikum wurde geradezu süchtig nach dieser Art von Selbstkritik. Es sind die Jahre der Nachwehen der französischen Revolution im Übergang zur Restauration. In seinem Werk begräbt Rossini die heroische Epoche in einem befreienden Gelächter, aber er soll geweint haben, als er Beethovens Eroica hörte. Drei der Opern, die das Rossini Opera Festival dieses Jahr zur Aufführung bringt, stammen aus diesen Jahren des Übergangs: La cambiale di matrimonio (1810), L´Italiana in Algeri (1813 ), Torvaldo e Dorliska (1815).
Man spürt die Ambivalenz der Zeit in der bürgerlichen Kritik am feudalen, aber auch in der feudalen Kritik am bürgerlichen Geschlechterverhältnis. In La cambiale verkauft ein reicher englischer Kaufmann seine Tochter bei einer über Wechsel finanzierten Warentransaktion an einen Amerikaner. Marx ist noch nicht geboren, aber schon entdeckt das Bürgertum die Geheimnisse der Verwertung der heiligsten Werte. Der heiratswillige Amerikaner ist jedoch nicht nur ein guter Geschäftsmann, sondern auch ein Naturbursche, der die Freiheit des Mädchens respektiert und damit der Komödie zum Happyend verhilft. Keine Zeigefinger, nur reinste, perlende Musik. Da die Aufführung den Veranstaltern nicht abendfüllend schien, hat man im Mozartjahr den entsetzlichen Irrtum begangen, dem Rossinischen Erstlingswerk ein Mozartsches Frühwerk gegenüber zu stellen.
Der elfjährige Mozart durfte im Jahre 1767 dem Erzbischof von Salzburg für die Fastenzeit ein "geistliches Singspiel" komponieren (Die Schuldigkeit des ersten Gebots, KV 35). Das Libretto strotzt von düsteren Aufforderungen, dem Sinnesgenuss zu entsagen und zu büßen. Es ist bemerkenswert, mit welcher sinnlichen Eleganz das Wunderkind die Ermahnungen zur frommen Entsagung musikalisch umgesetzt hat. Offensichtlich konnte der Elfjährige mit diesem barocken Paradox umgehen. Auch die Aufführung spielt damit, indem sie die Sünde in Gestalt junger Frauen mit schönen, freien Busen auftreten lässt, was sicher Mozart und wahrscheinlich auch dem Erzbischof gefallen hätte. Die Sünde hat das Stück nicht retten können. Gegen den Genius einer freieren Zeit hat eine szenische Aufführung dieses Singspiels keine Chance.
Fünfzig Jahre später kann sich Rossini in Die Italienerin in Algier eine offene Kritik des Geschlechterverhältnisses erlauben. Die einzige Verhüllung besteht in der Verlegung des Schauplatzes in einen arabischen Harem. Einen Scheich, der den Macho spielt, kann man ungestraft lächerlich machen. Isabella sucht ihren von Piraten geraubten Bräutigam und gerät selbst in die Hand und in den Harem des Bey. Dieser ist seiner gefügigen orientalischen Frauen überdrüssig und sucht eine ungezähmte, moderne Frau: eine Italienerin. Er findet sie in Isabella, die dem allmächtigen Mustafa Manieren beibringt und ihn an der Nase herumführt. "Wenn eine Frau es richtig anstellt, wird sie mit jedem Manne fertig", heißt es im Textbuch. Am Schluss sind alle glücklich und vergnügt, Sieger und Besiegte, die weiße Frau und der arabische Pascha, Haremsdamen, Eunuchen und die italienischen Gefangenen, denen unter der Führung von Isabella die Flucht in die Heimat gelingt. Ein lachender, ein befreiender Sieg, der alles lächerlich macht, doch niemand demütigt.
Stendhal, der die Oper im Jahre 1817 in Vicenza sah, bekennt: "Das Publikum, wir alle, haben Tränen gelacht" und: "Es ist der organisierte Wahnsinn". Das ist das Stichwort für Dario Fo, dessen Regie alle Register italienischer Komik zieht. Nicht nur Haremsdamen und Eunuchen, sondern auch Affen, Giraffen, Zebras und Löwen, selbst Bäume werden in den Rossinischen Wirbel gerissen, der so aktuell ist, dass auch eine patriotische Fußballmannschaft und gedopte Radler auf die Bühne stürmen dürfen. Mit seinen hundert Einfällen nimmt Fo die ganze Oper ins Schlepptau und macht Rossini Konkurrenz. Das hat die fatale Folge, dass in der Verdoppelung der Genuss verpufft. Der Wahnsinn verliert seine Energie, wenn die Regie ihn erklärt.
Bei Torvaldo e Dorliska geht Mario Martone den umgekehrten Weg und stellt sich ganz in den Dienst der Musik. Das Libretto ist denkbar einfach gestrickt. Der finstere Herzog von Ordow versucht, eine Braut dem Bräutigam zu entreißen. Die Braut entkommt, flieht aber durch einen großen Wald wohin? Direkt in die Arme des Tyrannen. Der totgeglaubte Bräutigam will sie befreien und gerät ebenfalls in die Gewalt des Herzogs, der in einer gewaltigen Arie bekennt, mit sich und seiner Ruchlosigkeit glücklich zu sein. Die Macht des Bösen wird schließlich durch einen vom Burgvogt unterstützten Bauernaufstand zunichte gemacht. Der Tyrann bittet um den Tod, den er einem freudlosen Leben vorzieht. Diese Oper gehört zu den zahlreichen Werken Rossinis, die nach ein paar zeitgenössischen Aufführungen in der Versenkung verschwunden waren und erst jetzt wieder durch die Tätigkeit des Rossini Opera Festivals dem Vergessen entrissen werden.
Die Schwierigkeit dieser Oper besteht darin, dass eine überbordende Musik vom Libretto nicht zusammengehalten wird, was dem Stück einen fragmentarischen Charakter gibt. Rossini hat sich nicht gescheut, es später wie einen Steinbruch auszubeuten und die besten Arien in anderen Opern wieder zu verwenden. Diese Methode machte ihn zum Erfinder eines modernen Baukastenprinzips, mit dessen Hilfe er ein riesiges Werk, Dutzende von Opern, in wenigen Jahrzehnten geschaffen hat. Eine moderne Uraufführung der vergessenen und ausgeschlachteten Rossini-Opern steht daher vor enormen Problemen und im Falle von Torvaldo e Dorliska vor der Aufgabe, mit Hilfe der Regie einer genialen Musik das fehlende Gerüst nachzuliefern.
Das ist Mario Martone gelungen. Ein Märchenwald setzt Shakespearesche Akzente. Aus seinem Traumdickicht kommen und gehen die Figuren, treten in die Realität der Burg. Diese erstreckt sich über die Rampe hinaus in den Zuschauerraum, der ohne jede avantgardistische Allüre in das Spiel einbezogen wird. In ihrem ersten großen Duett entfalten Dorliska und ihr Verfolger eine Spannung, die, man ahnt es, die junge Braut mit ihrem Torvaldo nie erreichen wird. So wartet das Publikum gespannt darauf, zu welcher Art der Harmonie sich die Liebenden aufschwingen werden. Rossini kennt die ganze Skala erotischer Gefühle. Im Gegensatz zu Isabella ist Dorliska ein passives Opfer. Die Männer sind die Macher und singen begeistert ihr Trio (zwei Bässe und ein Tenor), jeder "felice e beato", glücklich und selig in der Überzeugung, Sieger zu sein.
Dass ein Bauernaufstand explizit und mit sehr präsenten Chören den Tyrannen stürzt, mag im Jahre 1815 befremden. Rossini hat immer die Gunst der Mächtigen gesucht, aber auch immer mit dem Feuer gespielt. Für seinen Guillaume Tell (auch ein Bauernaufstand) bekam er im Sommer 1829 in Paris von Karl X. das Band der Ehrenlegion, genau ein Jahr bevor der "gallische Hahn" der Julirevolution in Rossinis Opernmusik hineinschmetterte. Karl X. wurde gestürzt, zu dessen Krönung Rossini die Oper Il viaggio a Reims geschrieben hatte (1825). In ihr hat er es gewagt, die ganze Festgesellschaft durch den Kakao zu ziehen. Auch eine Krönung ist organisierter Wahnsinn. Rossini kam immer durch die Zensur, solange er das erste Gebot dieser Gesellschaft bediente: Das Vergnügen. Erst mit dem Verlust der Fähigkeit, sich selbst kritisch zu genießen, war der Untergang dieser Gesellschaft besiegelt.
Nach dem Tell hat Rossini aufgehört, Opern zu schreiben. Die Gründe für das Verstummen erklärt Dario Fo: "Ein Mann, der Musik schreibt als wäre es ein Liebesspiel oder ein gastronomischer Genuss, ein Mann, der mit der Musik gleichzeitig lacht und weint, zieht sich zurück aus einer Welt, die mit dem Komischen immer weniger anzufangen weiß".
Jedes Jahr führt das Rossini Opera Festival Die Reise nach Reims mit Nachwuchskräften unter der Leitung von Alberto Zedda auf. Für Kenner, die hören wollen, wie sich neue Qualitäten von Stimmen bilden und durchsetzen, gehören diese eher bescheidenen Aufführungen zum geheimen Höhepunkt des Festivals. Denn die jungen Sänger/innen bieten über die für Rossini notwendige technische Bravour hinaus genau das, was Stendhal an dieser Musik begeistert hat: Vitalität und Brio, Lebendigkeit und Feuer.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.