In diesen Tagen haben zwei Ereignisse, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben, die Figur Pasolinis 30 Jahre nach dem Tod des Dichters und Regisseurs schlagartig und unerwartet in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Pino Pelosi, der den Mord an Pasolini schon in den Morgenstunden des 2. November 1975 gestanden hatte, widerrief am vergangenen Samstag, dem 7. Mai, (natürlich im Fernsehen) seine bisherige Schilderung der Tat und erklärte sich für unschuldig.
Er bestätigte damit, was Freunde und die Anwälte des Ermordeten immer behauptet und was das Urteil der ersten Instanz festgestellt hatte: Pasolini war das Opfer einer geplanten Aktion mehrerer Mörder. Genau eine Woche zuvor, am 29. April 2005 hat das Oberste Gericht endg
t endgültig nach zehn Prozessen in letzter Instanz festgestellt, dass die Justiz keine Täter des Bombenanschlags vom 12. Dezember 1969 in Mailand ermitteln konnte. In einer Mailänder Bank hatte damals eine Bombe 17 Todesopfer und 85 Verletzte gefordert. Nun kam der Schlussstrich. Die beiden Nachrichten haben auf den ersten Blick miteinander nur gemein, dass alte Mysterien der italienischen Justiz wieder an die Oberfläche treten, rätselhafte Fälle, über die es keine Wahrheit gibt. Aber es ist Pasolini selbst gewesen, der bereits 1969 einen Zusammenhang zwischen seinem Tod und den Bomben von Mailand hergestellt hat.Zurück zu Pelosi. Die Staatsanwaltschaft Rom hatte sich mit seinem Geständnis sofort zufrieden erklärt und die These von der Präsenz mehrerer Täter immer zurückgewiesen. Trotz wichtiger Indizien hat sie nie Ermittlungen in diese Richtung aufgenommen beziehungsweise sofort wieder eingestellt. Pelosi war mit einer mehrjährigen Jugendstrafe davongekommen, hat aber seither wegen verschiedener Delikte insgesamt 22 Jahre im Gefängnis gesessen. Jetzt behauptet er, drei Unbekannte hätten in jener Nacht Pasolini aus dem Auto gezogen und bestialisch erschlagen. Ihn, den minderjährigen Augenzeugen, hätten sie durch Drohungen gezwungen, die Schuld auf sich zu nehmen. Nach 30 Jahren und nach dem Tod seiner Eltern könne er jetzt frei reden, ohne für seine Familie etwas befürchten zu müssen. Nach diesen Aussagen hat die römische Staatsanwaltschaft entschieden, die Ermittlungen nach 30 Jahren erneut aufzunehmen. Wird damit ein Rätsel der italienischen Kriminalgeschichte endlich gelöst?Die Frage geht am eigentlichen Interesse der Sache vorbei. Pasolini hat immer darauf bestanden, den Tod als »höchsten Ausdruck« eines Menschen und eines Werks zu sehen. Er gebrauchte eine Metapher aus der Filmarbeit: Der Tod bearbeitet das Leben wie der Schnitt das gefilmte Material. Besessen von der Idee seines Todes hat er die Art (von Stockschlägen massakriert) und den Ort (am Meer, Ostia) seines Todes seit 1962 immer wieder beschrieben. Nach langem Zögern hat ein Teil der italienischen Literaturkritik in ihrer Interpretation des Werks diesen »Schlüssel« akzeptiert. Das heisst, sie hat festgestellt, dass im Falle Pasolini das Werk vom Leben und vom Tod des Autors nicht zu trennen ist, sondern eine Einheit bildet als eine Performance, die nicht eine Nacht, sondern ein ganzes Leben dauert und im Tod kulminiert. Giuseppe Zigaina, mit Pasolini seit den vierziger Jahren befreundet, hat als Erster diese These entwickelt und im schriftlichen, verbalen, filmischen und theatralischen Werk Pasolinis jenen dunklen Teil entziffert, in dem der Autor im Code mythisch-religiöser Wendungen seinen künftigen Tod und sein »ewiges Leben« angekündigt hat. Zigaina geht so weit, dass er den Tod Pasolinis als die von diesem selbst nicht nur prophezeite, sondern auch organisierte Darstellung eines »Mysteriums« begreift, als einen völlig neuen »kulturellen Akt«. Wie dem auch sei, mit Sicherheit kann man sagen, dass die Ereignisse der Nacht zum 2. November 1975 für die Interpretation des Werkes nicht gleichgültig sind.In seinem letzten Interview, sechs Stunden vor seinem Tod, für das Pasolini den Titel wollte Wir sind alle in Gefahr, beschrieb er seine und die gesellschaftliche Situation mit folgenden Worten: »Hier herrscht der Wunsch zu töten. Und dieser Wunsch verbindet uns wie unselige Brüder eines unseligen Scheiterns eines gesamten sozialen Systems. Auch mir würde es gefallen, wenn alles gelöst werden könnte, indem man das schwarze Schaf isoliert. Auch ich sehe die schwarzen Schafe. Ich sehe viele. Ich sehe sie alle. Das ist das Unglück und ich habe schon einmal zu Moravia gesagt: Für das Leben, das ich führe, bezahle ich einen Preis ... Es ist wie bei einem, der in die Hölle hinabsteigt. Aber wenn ich zurückkomme, falls ich zurückkomme, habe ich andere Dinge gesehen, viele Dinge mehr.« Das große Massaker, das Inferno, ist diese Gesellschaft, und das Unglück, das Schicksal so sah es Pasolini- wollte, dass er nicht die Augen verschließen konnte, sondern Dinge sah, vor denen die Intellektuellen, um zu überleben, »das Thema wechseln«.In der Nacht vom 13. zum 14. Dezember 1969 hatte Pasolini das Gedicht Patmos geschrieben. Er stand, wie alle damals, unter dem Schock des ersten großen terroristischen Anschlags in Europa. Pasolini schreibt eine Apokalypse, eine »Offenbarung«, in der er sich mit den Opfern, aber auch mit den Tätern auf ähnliche Weise identifiziert wie später in seinem letzten Interview: »Italien ist in einer Krise, die gleiche Krise an der ich leide/ (Anpassungsunfähigkeit an die neuen Bankgeschäfte)/ an der in ihrer tierischen Art die Faschisten leiden/«. Nach dieser Diagnose mit dem sarkastischen Hinweis auf seine Unfähigkeit, sich dem neuen Geschäftsgebaren anzupassen, wendet er sich an den Täter, der »mein lieber Bruder geworden ist, und den ich fest umarmen möchte;/ du wirst dich umbringen, verrückter Faschist«. Im wachsenden Wunsch nach Tod und Krieg, den die westlichen Gesellschaften hegen und auf die »schwarzen Schafe« abschieben wollen, sind wir alle verbunden als »unselige Brüder des Scheiterns«.Welch eine seltsame Koinzidenz: Die Justiz schließt die Akten des Mailänder Prozesses und muss in Rom die des Mordprozesses erneut öffnen. Die Wahrheit, die nie ans Licht kam, hat ihr Zeugnis im massakrierten Körper der Dichters. Und Pasolini behält das letzte Wort: »Das düstere Sichverbohren in totaler Gewalt läßt nicht mehr erkennen, wessen Zeichen du bist«. Die schwarzen und weißen Schafe vermischen sich. Alles muss in einem anderen Licht gesehen werden.
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